Todesarten. Leichenprunk. Öl auf Holz, auf Leinwand übertragen. In seinem auf das Jahr 1508 datierten Gemälde Marter der zehntausend Christen verhandelt Albrecht Dürer den Märtyrertod ebenso vieler römischer Soldaten, die einer Legende nach um das Jahr 120 hingerichtet wurden. Nach Armenien gesandt, um einen Aufstand niederzuschlagen, konvertierte das Heer gegen den Willen des Kaiserreichs zum Christentum. Nur so – mit Hilfe des christlichen Gottes – war es den Soldaten möglich, die feindliche Übermacht zu besiegen. Als aber Kaiser Hadrian von der Bekehrung seiner Männer erfuhr, beauftragte er ein Barbarenheer, um die Abtrünnigen zu vernichten. Von den damit verbundenen Kampfhandlungen und Tötungsakten erzählt Dürers Gemälde.
Die Marter der zehntausend Christen ist ein Wimmelbild der Grausamkeiten: ein chaotisches Gemenge aus Körpern und Folterwerkzeugen in einer bewaldet-gebirgigen Landschaft. Die römischen Soldaten werden darin von ihren blutrünstigen Peinigern wahlweise gekreuzigt, enthauptet, gesteinigt oder scharenweise in einen Abgrund gestürzt. Die Opfer sind nur leicht bekleidet oder nackt, die mordenden Barbaren hingegen tragen prunkvolle orientalische Kostüme. Diese Markierung verweist auf die zur Entstehungszeit des Gemäldes virulente Drohkulisse einer osmanischen Expansion, der es mit christlicher Glaubensgewissheit und Demut zu begegnen galt.
Die appellative Funktion des Gemäldes wird nochmals dadurch unterstrichen, dass sich Dürer selbst im Mittelgrund des Bildes dargestellt hat. Er blickt den Betrachter:innen seines Schauerstücks direkt in die Augen. An seiner Seite weiß er den Humanisten Conrad Celtis, der wiederum auf den nahestehenden Bischof weist, der für die Taufe der Zehntausend zuständig war. Dürers Werk stellt in einer jeden Szene ungeahnte Zusammenhänge und Verbindungslinien her. Es vereint zahlreiche Zeit- und Bedeutungsebenen und ist eine fantastisch anmutende Collage aus Überlieferungen und Legenden, biblischen Motiven und zeitgenössischen Diskursen der Renaissance.
Das Prinzip der Collage bzw. literarischen Montage zeichnet auch die Lyrik des ungarischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Szilárd Borbély aus. Bekanntheit im deutschsprachigen Raum erlangte der Autor durch seinen radikal verstörenden Roman Die Mittellosen (Suhrkamp Verlag, 2014), der aus der Sicht eines elfjährigen Jungen vom entmenschlichten Leben in einem ungarischen Dorf erzählt. Doch fast zwanzig Jahre lang schrieb Borbély ausschließlich Lyrik. In diese Schaffensphase fällt auch der Gedichtband Berlin – Hamlet (2003), der in Folge eines längeren Berlin-Aufenthalts um die Jahrtausendwende entstand. Er ist Teil einer gleichnamigen Edition, die 2019 in der Übersetzung von Heike Flemming in der Bibliothek Suhrkamp erschienen ist. Gleichberechtigt ergänzt wird das Buch von den Arbeiten Halotti Pompa (Leichenprunk, 2006) und Egy gyilkosság mellékszállai (Nebenstränge eines Verbrechens, 2008).
Die Texte in Berlin – Hamlet basieren auf den Erfahrungen und Beobachtungen Borbélys in der deutschen Hauptstadt, die sich insbesondere in den 1990er Jahren grundlegend verändert hat. Diese Dynamik ist auch den Gedichten eingeschrieben. Sie erzählen von Aufbruch und Zerfall, von Globalisierung und Gentrifizierung. Bereits einige der Titel greifen bekannte Orte, Straßen und Plätze wie die Invalidenstraße, den Kurfürstendamm oder den Wannsee auf. Die genannten Orte sind in erster Linie Ausgangspunkt für ein postmodernes, assoziatives Spiel der Zeichen und Referenzen. Mehr noch als aus realen Begebenheiten speisen sich die Texte Borbélys aus weiteren Texten:
Wiederholt eingeflochten werden Bezüge zu Walter Benjamins Passagenwerk, Franz Kafkas Briefe an seine Verlobte Felice Bauer und – wie sollte es anders sein – zu William Shakespeares Drama Hamlet und dessen Berliner Inszenierung aus den 1930er Jahren. Hinzu kommen zahlreiche Verweise auf die ungarische Literatur der Zwischenkriegszeit, wie das hervorragende Nachwort von Flemming zu unterrichten weiß. Ein jedes Gedicht stellt ungeahnte Zusammenhänge und Verbindungslinien her und ist doch nicht überladen.
Trotz der geschilderten Referenzdichte bedient sich Borbély einer einfachen Sprache, die unnötige Ornamente meidet. Auch ohne die vielen Bezüge zu erkennen, sind die Gedichte zugänglich und verständlich. Eine große Herausforderung stellen die Texte weniger auf einer intellektuellen als auf einer emotionalen Ebene dar. Denn die Leere, der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, die sich darin ausdrücken, sind nur schwer zu ertragen. Der Autor trägt das Gewicht der Welt auf seinen Schultern und berührt in seinen Gedichten die existentiellen Fragen des menschlichen Daseins; verhandelt Trauer, Verlust und Tod.
Es ist nahezu unmöglich, die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit dieser Lyrik nicht in Verbindung zu einem traumatischen Ereignis im Leben Borbélys zu setzen, auf das der Autor in den Nebensträngen eines Verbrechens selbst zu sprechen kommt: Im Jahr 2000, zum Weihnachtsfest, wurden seine Eltern in ihrem Dorf in Nordostungarn von Einbrechern ausgeraubt. Bei diesen Überfall wurde seine Mutter Ilona mit einer Axt erschlagen, sein Vater Mihály überlebte nur schwer verletzt. Er starb wenige Jahre später nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie. Seinen Eltern widmet Borbély sowohl Berlin – Hamlet als auch die Arbeit Leichenprunk, die sich in formaler Hinsicht grundsätzlich vom erstgenannten Band unterscheidet.
Leichenprunk setzt sich noch expliziter mit dem Leid und Sterben seiner Eltern auseinander. Der Band ist in drei Abschnitte unterteilt: Sequenzen zur Karwoche, zur Geschichte von Amor und Psyche und zum chassidischen Judentum. Borbély – lange Zeit Hochschullehrer für alte ungarische Literatur in Debrecen – nutzt in seiner Trauerarbeit eine strenge Formensprache und greift auf mittelalterliche und barocke Literaturtraditionen zurück. Dieses Erbe füllt er mit der Gegenwart des Todes. Die von einer qualvollen Körperlichkeit durchzogenen Gedichte suchen Trost in religiösen Bildern und Motiven, auch wenn diese Suche erfolglos bleiben muss. Unvorstellbar, der eigenen Verzweiflung mit christlicher Glaubensgewissheit und Demut zu begegnen.
Szilárd Borbély litt jahrelang unter Depressionen. Im Februar 2014 nahm er sich im Alter von 51 Jahren das Leben.
Lyrik im KHM
Dies ist der dritte Teil einer vierteiligen Lyrik-Serie, die Literatur in einen neuen Kontext setzen möchte. In Kooperation mit dem Kunstvermittler Daniel Uchtmann vom Kunsthistorischen Museum in Wien entsteht ein jedes Buchphoto der Serie in den Räumlichkeiten des KHM. Der jeweils vorgestellte Lyrikband geht dabei eine Verbindung zu einem ausgewählten Gemälde ein. Dies ist im Fall des Bandes Berlin Hamlet. Gedichte von Szilárd Borbély das Bild Marter der zehntausend Christen (1508) des deutschen Renaissance-Malers Albrecht Dürer.