Die Tiere sind unruhig
Zum Taubenschlag führt eine große Leiter. Die darfst du nicht benutzen, du bist zu klein. Auf dem besudelten Fenstersims harrt eine Taube und gurrt: Ruh-Ruh! Aber ganz ruhig, sie gibt schon Ruh. Es wird ein männliches Tier sein, denn die Weibchen schweigen. Du schweigst nicht. Neben dem Tauber dein Buch Nennt mich Esteban. Dem Vogel ist das gleichgültig (mir nicht), ihn interessiert nur der Fortbestand. Denn unter ihm kreisen die Katzen – die einzige Gattung, die in deinem Buch zu (über-)leben weiß. Die Katzen setzen zum Sprung an, kratzen auf den Mauerwölbungen. Meist verfehlen sie ihr Ziel. Doch ab und an haben sie Glück. Am Morgen findet dein Vater, taubengleich watschelnd (das kommt vom Alkohol), die toten Tiere, blutig, mit aufgerissenen Hälsen. Die darfst du nicht sehen, du bist zu klein. Den Tod, dieses Ungeheuer, verstecken die Erwachsenen vor dir wie die Schlange ihre Beine.
Dem Ungeheuer ist das gleichgültig. Es holt tief Luft und entlädt sich in der Nacht. Die Bora fegt über die Adria-Küste: Die Zimmerfenster klirren, im Garten des Ferienheims krachen die Sonnenschirme zusammen. Im Spätsommer 1991 bist du schon elf und fürchtest dich nur kurz, reißt dich schnell wieder zusammen. Am Morgen danach schauen die Erwachsenen aufs Meer, mustern die Schäden, die das Unwetter an Land angerichtet hat. Dir ist das gleichgültig. Zwischen abgebrochenen Ästen erblickst du an die zehn Spatzen, die leise, unter gedehntem Piepsen, vor sich hin krepieren. Sie liegen auf dem Rücken, die kleinen Beine gen Himmel gerichtet.
All die toten Vögel. Du hattest einmal eine Eule und nanntest sie Himmel. Sie wohnte über der Tür im Flur. Ihre Federn waren braun und steif, ihre Krallen dick und scharf, ihr Blick auf dich gerichtet. Der Himmel war für die Eule gestorben. Dein Onkel Ranko hat sie in einem Wald nahe Sarajevo erschossen und später präpariert. Das war sein Hobby. Beim Blick in den weiten und verschorften Himmel – dorthin, wo angeblich jene leben, die es nicht mehr gibt – kam dir eine Idee: Hätte der glatzköpfige Onkel nicht auch deine tote Mutter ausstopfen können? Gefüllt mir Stroh und Heu, könnte sie bei Kaffee, Schnaps und Kuchen bei euch sitzen. Sie starb im Alter von nur 22 Jahren, da warst du selbst erst zwei Jahre alt. Seitdem hat sie dich nie mehr verlassen.
Alles über meine Mutter
Lejla wird von Toten verfolgt. Leid und Herrlichkeit. Ihre Mutter ist zu früh verstorben, als dass sie sich an sie erinnern könnte – doch sie kehrt zurück zu ihr, begegnet ihr im Traum, spricht mit ihr in fantastischen Episoden. Zerrissene Umarmungen, dazu eine Zigarette und eine Tasse Kaffee. Nie am Morgen, immer in der Nacht. Die Haut, in der sie wohnt, wird ihr unheimlich. Eine Therapie soll Lejla dabei helfen, mit ihren Verlusten umzugehen. Es sind zu viele Verluste: die Mutter, der Frieden, die Großeltern, das alte Haus und ihr Zeitgefühl. Sie fühlt sich schuldig, spielt Karten mit Freundinnen und geht ins Kino. Im Meeting Point läuft ein bekannter Film von Pedro Almodóvar: Er erzählt von Manuela, die ihren Sohn verliert. Sein Name lautet Esteban. An seinem Geburtstag wird er von einem Auto überfahren und stirbt. Zuvor hatte er beschlossen, ein Buch über seine Mutter zu schreiben, die er kaum kennt.
Lejla beschließt, ein Buch über ihre Mutter zu schreiben, die sie nicht kennt. Lejla ist Esteban. Von der Mutter bleibt eine Schreibmaschine, sie war Stenotypistin. Glied in der Kette zwischen Sender und Empfänger. Lejlas Vater arbeitet bei der Post und richtet Telefonverbindungen ein. Glied in der Kette zwischen Sender und Empfänger. Beide Eltern schaffen einen Kanal. Lejla sendet. Sie beschließt, ein Buch über ihre Mutter zu schreiben, die sie nicht kennt. Eine Ermächtigung.
Das Augenspiel
Lejla Kalamujić ist eine bosnische Autorin und LGBTQ-Aktivistin, schreibt Prosa, Dramen, Essays und Rezensionen. Ihr zweites Buch trägt den Titel Nennt mich Esteban und ist 2020 in der Übersetzung von Marie-Luise Alpermann im eta Verlag erschienen. Dem Text ist keine Genre-Angabe vorangestellt, doch spricht der Klappentext von einem „Erzählband“, der sich wie ein „fragmentarischer Roman“ lese. Beide Bezeichnungen sind möglich. Die einzelnen Miniaturen, deren jeweilige Form stark voneinander abweicht, greifen ineinander, ergänzen sich und bauen aufeinander auf. Es sind persönliche Erinnerungen, Gedanken, Briefe, politische Kommentare, Essays und kleine Dramolette. So vielfältig wie die literarischen Formen sind auch die Themen, die Kalamujić in diesen autobiographischen Fragmenten verarbeitet: Verlust und Trauer, Depressionen, die jugoslawischen Kriege, homosexuelles Begehren und das Schreiben selbst.
Was die vielen Bruchstücke von Nennt mich Esteban so kunstvoll zusammenhält, ist das besondere Augenspiel oder auch Blickregime, das das Buch entfaltet. Zentrales Element sämtlicher Miniaturen sind die Augen, die eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten herstellen, und das Erzählen und Erinnern erst ermöglichen. So erfolgt eine Vergegenwärtigung der verstorbenen Mutter, auf deren schwarze Augen wiederholt verwiesen wird, mittels folgender Praxis: „Du bist ein offenes Notizheft. Unbeschrieben. Deshalb hole ich [Lejla] dich jetzt aus der Dunkelheit meiner Pupillen.“ Die kindliche Vorstellung, den Leichnam der Mutter zu präparieren – um sie so, nicht in die Welt der Lebenden, aber doch in die Objektwelt zu überführen – wird angeregt durch die dunklen und undurchdringlichen Augen einer ausgestopften Eule. Erklärend hält sich die junge Lejla zwei Murmeln „vor die verschlossenen Lider“.
Dass die Lider des Kindes verschlossen sind, ihr Blick demnach getrübt oder verhindert ist, steht paradigmatisch für das gesamte Buch. Lejla Kalamujić ist ein direkter, unmittelbarer Zugang zu ihrer toten Mutter verwehrt. Zahlreiche Passagen akzentuieren ein Augenleiden. Das Wetter an einem verschneiten Wintermorgen führt zu einem Juckreiz. Ein direkter Blick in die Sonne an einem Strandtag „dreht mein Weltbild um“. Antidepressiva lassen ihre Lider so stark anschwellen, dass die Protagonistin/Erzählerin unsicher ist, „ob die Nacht hereinbricht oder die Pappeln die Sonne verdecken“. Letztlich macht jedoch genau dieser „sonderbare, eigenartige und suspekte“ (engl. queer) Blick das Buch Nennt mich Esteban zu einer so bereichernden Lektüre.
UNBEDINGT LESEN! UNVERGESSLICH! Ich bin erst kürzlich auf „Nennt mich Esteban“ gestoßen. Ich bin Ärztin und Psychoanalytikerin und lese leidenschaftlich gerne. So ein Buch habe ich noch nie gelesen!!! Ich finde es so großartig und wichtig, dass ich es irgendwie jedem Menschen empfehlen möchte. Als Roman geschrieben, umfasst es fragmentarisch in 22 Geschichten die existenziellen Themen, mit denen wir alle persönlich und gesellschaftlich konfrontiert sind; verstärkt durch Krieg und Menschen verursachtes Leid.
Es ist auf diesem Hintergrund intellektuell, emotional, philosophisch, psychologisch, gesellschaftspolitisch und literarisch einmalig! Jede Zeile in diesem Büchlein ermöglicht eine überdauernde Anregung für innere Prozesse und auch den konkreten Austausch mit anderen. Weil die Geschichten so wahr, kreativ, berührend und trostspendend sind, wird es niemand vergessen, der es je gelesen hat. Aus tiefstem Herzen sage ich „Danke“ zu Frau Lejla Kalamujić und auch dem eta-Verlag!!!
Liebe Hanna Petersen, haben Sie vielen Dank für Ihre Ergänzungen. Mein Podcast-Gespräch mit der Autorin (hier zu finden in der Sektion „Audiospur“) hat Ihnen hoffentlich ebenso gefallen. Herzliche Grüße aus Wien!