Er fragt mich: Entschuldige meine Verwirrung, doch mit welcher Art von Überschreitung haben wir es hier eigentlich zu tun? Und inwiefern ist diese an die ungarische Hauptstadt gebunden? Budapest liegt an der Donau, soviel ist mir bekannt. Die Stadtteile Buda und Óbuda werden durch den Fluss vom Stadtteil Pest getrennt. Elf Brücken führen heute über das Wasser. Eine dieser Brücken zeigt das Cover des Buches. Im Bau oder bereits zerstört? In jedem Fall ist die Verbindung eingerissen. Und so wählen die zwei Frauen im Bildvordergrund ein Ruderboot. Sie sehen glücklich aus bei ihrer Überfahrt. Doch vielleicht folge ich einer falschen Fährte?
Er sagt: Nein, ich kann nicht völlig irren. Die Topologie der Stadt ist hier allgegenwärtig, ebenso die Bewegungen und Praktiken im Raum. Einer jeden der 14 Erzählungen von János Térey (1970-2019) ist ein Bezirk zugeordnet – konkrete Gebäude, Straßen und Plätze werden benannt. Ein Stadtplan ist nicht aufzufinden. So bin ich trotzdem verloren. Und sehe glücklich dabei aus.
Er insistiert: Das ist aber nicht alles. Denn stellt nicht auch die Form des Bandes eine klare Überschreitung dar? Die einzelnen Miniaturen sind Zwitterwesen aus Prosa und Lyrik, die den Lesefluss verlangsamen und einem Über-Lesen entgegenwirken. Zwischen den brillanten Texten: Schwarzweißphotographien. Sie stammen aus der Sammlung Fortepan – einem Archiv privater Aufnahmen, die den ungarischen Alltag im 20. Jahrhundert dokumentieren. Das verrät dir das Nachwort des Übersetzers Wilhelm Droste, das mehr ist als eine bloße Handreichung. Es ist ein sehr persönlicher Text über Térey, der unerwartet und viel zu früh verstorben ist.
Er setzt fort: Haben wir es nicht in jedem dieser Texte mit der Aufhebung von Grenzen zu tun, die Zeit, Moral, Diskretion, Sexualität und womöglich die Realität selbst betreffen? Ein Ingenieur betrügt seinen Kollegen mit dessen Ehefrau. Ein Haus knarzt und stöhnt ob der Ereignisse, die dort während des Zweiten Weltkriegs vor sich gingen. Eine intellektuelle Schwärmerei für einen Filmwissenschaftler entwickelt sich zu einer Form von Belästigung. Ein Regisseur dreht im Lokal seiner Jugend einen Hardcore-Porno, wird von der Dienstverweigerung seiner Hauptdarstellerin überrascht und bricht darauf in Tränen aus. Das sind doch allesamt Überschreitungen, meinst du nicht auch? Warum sagst du denn nichts?
”„Verdammte Scheiße! Hör endlich auf mit der Schwärmerei.“
János TéreyBudapester Überschreitungen
Er fordert ungehalten: Wien ist nicht Budapest, aber auch Wien liegt an der Donau. Ein Photo des schöne gestalteten Buches, erschienen im Arco Verlag, das könntest du doch an den Ufern dieses bekannten Gewässers machen. Da hinten bei der U-Bahn-Station Donauinsel soll es Schwäne und Enten geben. Und Tiere bringen Likes und Shares, so habe ich vernommen. Mach das doch mal, es würde mich glücklich machen!