Schließen Sie die Augen. Nein, schließen Sie jetzt bitte nicht die Augen, Sie sollen ja erst noch was lesen (Aber am Ende vom Absatz machen Sie die Augen dann wirklich kurz mal zu, ja?). Stellen Sie sich also vor, Sie würden jetzt die Augen schließen. Und nun denken Sie sich eine Melodie. Irgendeine. Muss gar keine schöne oder sonderlich originelle Melodie sein. Ganz im Gegenteil, krawallig wäre gut. Eine Melodie ohne Melodie. Irgendwie etwas, das in den Ohren wehtut. Haben Sie schon was oder fällt Ihnen mal wieder nichts ein? Nein? Wirklich nicht? Meine Güte, dann summen Sie eben was von Taylor Swift! Zumindest den Algorithmus wird’s freuen.
Also weiter geht’s, denn dies hier ist bereits der zweite Absatz. Als Freund:in des geschriebenen Wortes und aufmerksamer Mensch im Allgemeinen haben Sie eben kurz Ihre Augen geschlossen, nicht? Darum hatte ich Sie ja vorab gebeten. Wunderbar. Ich verrate Ihnen dann auch gleich, woran Sie in diesem kurzen Moment der unmelodiösen Ruhe und unruhigen Einkehr gedacht haben. Denn Sie sind ja völlig ahnungslos und wissen noch immer nicht, worum es in dem Buch geht, das Sie da oben auf dem schmucken Photo sehen. Ein Bild, das Sie in seiner schlichten Anmut völlig begeistert. Sie sind hingerissen, das spüre ich. Nie wären Sie selbst auf die Idee gekommen, dieses Buch, über das Sie noch nichts wissen, in der Kunsthalle Bratislava abzulichten und mit Arbeiten des tschechischen Künstlers Igor Hosnedl in Verbindung zu setzen. Sehen Sie, ich auch nicht. Ich bin an einem random Feiertag einfach durch die Straßen der slowakischen Hauptstadt geeiert, hatte leicht einen sitzen, erblickte die Kunsthalle und dachte mir: Na warum nicht?
Doch kehren wir nun zu Ihrem kurzen Moment der unmelodiösen Ruhe und unruhigen Einkehr zurück. Sie müssen ja an irgendwas gedacht haben, während sie irgendein Lied von Taylor Swift gesummt haben. Nein? Doch doch, ich sage es Ihnen. Ihnen fiel nämlich plötzlich ein, dass Sie sich im Literaturpalast befinden, der funkelnden Schabracke unter den Literaturblogs. Sowas hat natürlich Konsequenzen. Denn schon träumten Sie sich in die unbekannte Ferne. In irgendein tristes Kaff im ehemaligen Ostblock, in dem absolut nichts los ist und in dem nie je etwas passieren wird. In dem sie froh sein können, am letzten Wochenende mal nichts in die Fresse bekommen zu haben, ausnahmsweise. Sie träumten sich an einen Ort, der für nichts bekannt ist, außer für sein Gefängnis, nein sogar für seine zwei Gefängnisse. Schön, also wirklich überhaupt nicht schön. Und siehe da: Schon sind wir im lettischen Jelgava! Das reimt sich, macht’s aber auch nicht besser.
Sie halten Lettland gar nicht für so abgefuckt? Sie waren neulich erst für einer paar Tage mit Ihrer Mutter dort, fanden das Land wunderbar aufgeräumt und friedlich, die Leute nett und das Craftbeer ganz hervorragend (wenn auch ein bisschen teuer)? Da möchte ich Ihnen gar nicht widersprechen. Doch in Ihren Träumen, die ich Ihnen hier eben vielleicht ein wenig untergejubelt habe, geht es natürlich um Lettland in den 1990ern. Hätten Sie sich beim Titel des Romans von Jānis Joņevs eigentlich auch selbst denken können, oder? Ach das dachten Sie sich sogar, konnten sich Lettland in den 90ern aber nicht so recht vorstellen, als sie mit geschlossenen Augen irgendein Lied von Taylor Swift summten? Na bitte, gleich noch ein Grund mehr, den Roman Jelgava 94 von Jānis Joņevs zu lesen.
Das Buch – im Original bereits 2013 veröffentlicht – zählt zu den erfolgreichsten lettischen Romanen der letzten Jahre. Jelgava 94 wurde in über zehn Sprachen übersetzt, verfilmt und für die Bühne adaptiert. Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2022 in der Übersetzung von Bettina Bergmann in der Kölner Parasitenpresse. Das klingt alles sehr erfreulich, aber nun wundern Sie sich natürlich doch ein bisschen, warum ein Roman über die lettische Pampa international so gut ankommt. In solchen Fällen kann man jedoch nur mutmaßen: Das Buch ist schmissig, unterhaltsam und angenehm schräg; es informiert über die Post-Sowjet-Zeit in Lettland, ohne belehrend zu sein; darüber hinaus hat der Autor Humor, lässt sich aber nicht auf Blödeleien ein (so wie ich es hier tue).
Der besondere Reiz des Buches geht jedoch von seiner Anschlussfähigkeit aus. Man muss nicht in den 90ern aufgewachsen sein, um sich mit dem Protagonisten des Romans zu identifizieren, der hier rückblickend und zuweilen nostalgisch von seiner Jugend erzählt. Eltern und Schule nerven überall, nicht nur in Lettland. Die Abkapselung, so sie denn stattfindet, geht in ganz unterschiedliche Richtungen. Im Nachhinein will heute jeder ein Außenseiter gewesen sein, doch der Ich-Erzähler bei Joņevs ist tatsächlich einer. Er – in dem immer wieder der Autor selbst durchschimmert – will Teil einer Jugendbewegung sein und entscheidet sich für die dunkle Seite, für Rock und Heavy Metal, mit allem was dazu gehört. Musik wird wichtig, Konzerte, Alkohol, das passende Outfit und die richtige Haarlänge. Die Jugend entdeckt die Distinktion.
Zugehörigkeit und Sinnsuche sind die zentralen Themen des Romans. Eine klassische Handlung sucht man hier vergebens, denn Jānis Joņevs setzt eher auf viele einzelne Episoden, die das Teenager-Leben seines Protagonisten beleuchten. Der Sog, den das Buch entwickelt, ist eine Abwärtsbewegung. The Downward Spiral. Aber da kommt der Ich-Erzähler schon wieder raus, keine Sorge. Darum lehnen Sie sich also beruhigt zurück, atmen Sie entspannt ein und aus und schließen Sie die Augen. Und dann summen Sie doch eine Melodie, so Sie mögen. Nur für sich. Vielleicht was von Nirvana, Pantera oder Mayhem (Hauptsache nichts von Taylor Swift).
Postskriptum: Das letzte Bild zeigt die lettischen Autoren Andris Kalnozols und Jānis Joņevs und mich auf der Frankfurter Buchmesse 2023. Im Auftrag von Latvian Literature habe ich die Veranstaltung Von der Kleinstadt zum internationalen Erfolg moderiert, auf der Joņevs und Kalnozols ihre Romane Jelgava 94 bzw. Kalender on mu nimi vorstellten. (Die Veranstaltung war übrigens prima – auch wenn man uns das auf dem Photo allen nicht so recht ansehen mag.)