Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf?

Von 01.10. 2023 Bücher

„Riesige Sümpfe haben wir, undurchdringlich, doch der Mensch hat weder Schutz noch Rettung. Wenn sie nur wollen, kriegen sie dich und treiben dir die Seele aus, einmal die Wölfe, einmal die Mächtigen.“

Eva ViežnaviecWas suchst du, Wolf?

Morast, Wälle und Schlehengestrüpp. Scharfes Riedgras und dunkle Wälder. Wer weiß, wo wir hier hingeraten sind. In der Ferne leuchten die Dörfer, matt und wenig idyllisch. Abgetrennt von der Welt und doch mitten in Europa liegt der Ort Nauhalnaje, irgendwo im Südwesten von Belarus. Wir wissen es nicht genau. Die Suchmaschinen helfen uns nicht weiter. Womöglich gibt es den Ort gar nicht (mehr).

Nicht alle Städte und Dörfer, die im Roman Was suchst du, Wolf? (Zsolnay Verlag, 2023) von Eva Viežnaviec auftauchen, sind online auffindbar. Es mag an der Transkription liegen, vielleicht auch an unserem Unvermögen. Dennoch werden wir übermütig: Versteckt sich hinter Nauhalnaje das kleine Städtchen Naroulja, in dem bis zum Russischen Bürgerkrieg etwa 1600 Jüdinnen und Juden lebten und das 1986 durch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl stark betroffen war? Doch ganz gleich, wo wir uns befinden, ist doch eine Sache sicher: „Nichts wird an diesem Ort“, wie es im Buch gleich mehrfach heißt.

Eva Viežnaviec ist das Pseudonym der belarussischen Schriftstellerin und Journalistin Sviatlana Kurs. Die Originalversion ihres schmalen Romans erschien im Jahr 2020 im Pflaumenbaum Verlag, der von der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und Alena Kazlova gegründet wurde. Pflaumenbaum veröffentlicht ausschließlich Texte von Autorinnen, da diese (nicht nur) in Belarus noch immer zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Ein Jahr nach Erscheinen wurde Was suchst du, Wolf? mit dem Jerzy-Giedroyc-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten belarussischen Romanpreis. Die deutschsprachige Übersetzung von Tina Wünschmann stand 2023 auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.

„Alkoholismus hat, wie jede Beschäftigung, seine Geheimnisse und verlangt nach Übung. Ryna saß in der Toilette des Einkaufszentrums und bemühte sich, geräuschlos zu trinken, damit es in den Nachbarkabinen nicht zu hören war.“

Eva ViežnaviecWas suchst du, Wolf?

Viežnaviecs Roman beginnt mit einer Reise. Sie führt die Figur Ryna, eine etwa fünfzigjährige Frau, von Darmstadt via Warschau in die belarussische Hauptstadt Minsk, von hier aus in ihren kleinen Heimartort Nauhalnaje, der nur beschwerlich und über Umwege zu erreichen ist. Etwa acht Jahre lang war sie nicht hier. Ihre Rückkehr nach Belarus hat gleich zwei Gründe: Zum einen hat sie aufgrund ihrer Trinksucht ihren Job in einem Pflegeheim verloren, zum anderen ist ihre Großmutter Darafeja – die zweite Hauptfigur des Romans – im Alter von 101 Jahren verstorben.

Nach einigen kurzen Episoden über das unterkühlte Verhältnis Rynas zu ihren Eltern und die gemeinsame Totenwache am Bett der Verstorbenen, steht schon bald die Großmutter Darafeja Sirasch – oder genauer: deren Leben und Zeit – im Zentrum des Erzählens. Sie war eine sogenannte Flüsterin, eine Art Wunderheilerin, die aufgesucht wurde, wenn Frauen nicht oder ungewollt schwanger wurden oder eine Geschlechtskrankheit geheilt werden sollte. Sie braute Mixturen gegen saufende und pöbelnde (Ehe-)Männer und flüsterte Wundrosen hinweg.

Ryna wurde von ihrer Großmutter in dieses magische Wissen eingeführt. Auch sie hat eine enge Verbindung zur Natur und zur Welt der Mythen, doch die Tradition des Flüsterns innerhalb der Familie ist bereits zu einem Ende gekommen. Schon in jungen Jahren stand Ryna ihrer Großmutter immer deutlich näher als ihren Eltern, wuchs bei ihr auf (in ihrer Hälfte des gemeinsamen Hauses), sieht ihr ähnlicher als ihrer Mutter Maria. Im Verlauf des Romans wird sich zeigen, dass bereits Darafeja sehr eng mit ihrer Großmutter verbunden war und die Geschichte der Familie von Generationssprüngen geprägt ist.

„So war das, Kindchen. Partisanen gab es Hunderte und Tausende. Als Mann konnte man nur im Wald überleben. Wir, die Frauen, Alten und Kinder, waren für alle Futtervieh.“

Eva ViežnaviecWas suchst du, Wolf?

Die weibliche Linie der Familie wurde für ihre geheimnisvolle Gabe nicht nur geachtet und konsultiert, sondern ebenso gefürchtet und gemieden. Die Frauen waren in gewisser Weise tabu, unberührbar. Doch gerade diesem Umstand ist es geschuldet, dass sie (in der ein ganzes Jahrhundert umfassenden Lebensspanne Darafeja Siraschs) zwei Kriege und neun Mächte überlebt haben und ihr Hof Aredeber nie enteignet wurde. Niemand wagte es, sich mit den Bewohnerinnen anzulegen. „Warum will niemand mit uns zu tun haben?“, fragt Ryna ihre Großmutter an einer Stelle, woraufhin diese von ihrem Leben und der Geschichte ihres Heimatortes erzählt.

Was nun folgt, ist kein historischer Abriss der Machenschaften politischer Entscheidungsträger. Dennoch (oder gerade deshalb) offenbart Darafejas Bericht – der etwa die Hälfte des Romans ausmacht – einen profunden Einblick in das Leben in Belarus im 20. Jahrhundert. Es ist eine Geschichte von unten, die sich der Alltags- und Mentalitätsgeschichte marginalisierter Gruppen widmet. Hierzu zählen die jüdische Bevölkerung des Ortes, diejenigen, die gegen die Obrigkeit aufbegehren und immer wieder: die Frauen. Wir erfahren von Kriegen, Folter und Misshandlungen, Pogromen und Massenvergewaltigungen. Der Satz „Glücklich waren die, die einfach eine Kugel in die Stirn bekamen!“ verdeutlicht das Ausmaß an Grausamkeit, das die Menschen in der Region erfahren mussten.

Die Gewaltschilderungen fallen hart und direkt aus, die Sprache ist mitunter derbe. Doch Eva Viežnaviec gelingt es, das Leiden anderer zu betrachten, ohne das Elend zu fetischisieren oder zu verkitschen und damit zu banalisieren. Die Darstellung von Grausamkeiten folgt einer Notwendigkeit, keinem Lustgewinn. Zudem meidet der Text Schwarz-Weiß-Denken und einfache Wahrheiten; allen Widrigkeiten zum Trotz bewahren die Figuren Würde und Handlungsmacht. Dies zeigt sich auch im letzten Teil des Buches, der die Geschichte Rynas in Gegenwart und Zukunft weiterspinnt.

Was suchst du, Wolf? ist ein herausfordernder Text, drastisch, aber nicht frei von Komik. Abseits seiner literarischen Qualitäten setzt der Roman zudem die gegenwärtige „Revolution der Frauen“ in Belarus in einen gesellschaftshistorischen Kontext. Die kurze Form geht auf, auch wenn man sich in einigen Belangen noch detailliertere Hinweise und Anmerkungen gewünscht hätte. Doch womöglich kann und sollte ein literarischer Text so viel aufklärerische Arbeit auch gar nicht leisten. Zur aktuellen politischen Situation in Belarus empfehlen sich die Publikationen des Verlags edition.fotoTAPETA Berlin, der sich diesem Thema mit sehr viel Engagement widmet.

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