”„Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen.“
Die gerettete ZungeElias Canetti
Drehen wir die Zeit zurück.
Ich lebe in Bukarest, für etwa zwei Monate. Meine Zeit in der rumänischen Hauptstadt neigt sich bereits dem Ende zu. Ich bin ein bisschen wehmütig, wie ich es gerne bin. Schon jetzt vermisse ich dieses ächzende Ungetüm, das mich lieb gewonnen hat. Wird es mich in Erinnerung behalten?
Meine letzten Tage nutze ich für Spaziergänge und Museumsbesuche. Ich trinke Rosé in versteckten Gastgärten und knülle mich dabei in Decken, die mir ungefragt gereicht werden. Die Kellnerinnen nicken mir zu, man kennt mich hier.
Ein angedachter Tagesausflug in den bulgarischen Grenzort Rustschuk und das dort ansässige Canetti-Zentrum musste aus unterschiedlichen Gründen immer wieder verschoben werden. Jetzt, just in dem Moment, in dem ein geeigneter Termin gefunden scheint, verschlimmern sich die Auswirkungen der Pandemie. Die Infektionszahlen sind so hoch, dass Bulgarien – wo die Situation nicht weniger alarmierend ist als in Rumänien – sowohl eine Impfung als auch einen negativen PCR-Test für die Einreise verlangt (in die andere Richtung gilt das nicht). Aber das ist nur eine kleine Hürde, kein Hindernis.
Es kostet mich einige Google-Anfragen und persönliche Gespräche, um ein Testzentrum in meiner Nähe zu finden. Gemessen am durchschnittlichen Einkommen ist der Test in Rumänien unverhältnismäßig teuer. Auch kann mir nicht gesagt werden, wann in etwa mich das Ergebnis erreichen wird. Aber das ist nur eine kleine Hürde, kein Hindernis.
Es ist der 22. Oktober 2021. Ein Freitag. Mein Zug fährt um 11 Uhr vormittags am Gara de Nord ab. Ich mag die zwielichtige Bahnhofsgegend, das monströse, stets belebte Gebäude, die langen Wege und die rutschigen Böden. Die Frauen am Ticketschalter sind meist freundlich.
Die Fahrt nach Rustschuk dauert annähernd drei Stunden. Der Zug, ein deutsches Modell, hat nur zwei Waggons. Dennoch bleiben viele Plätze unbesetzt, was an den verschärften Vorschriften liegen mag. Mir gegenüber haben zwei Rucksacktouristen Platz genommen. Deutsche, natürlich. Der Zug setzt sich in Bewegung und ich schaue zum Fenster hinaus. Die an mir vorbeiziehende Landschaft ist unscheinbar und langweilt sich ein wenig. Kleine Dörfer und weite Felder. Alles, was ich sehe, habe ich überall anders schon einmal gesehen, denke ich mir.
Ich blättere in meiner alten Taschenbuchausgabe der Geretteten Zunge, dem ersten Teil der Autobiographie von Elias Canetti (1905-1994). Buch und Autor motivieren meine Reise nach Rustschuk, das eigentlich Ruse (bulgarisch: Русе) heißt. Doch Canetti verwendete stets den alten deutschen Namen für seine Geburtsstadt. Da ich seinen Spuren folge, folge ich ihm auch in der Namensfrage. Vielleicht ist das zu einfach gedacht.
Ich blättere in meiner alten Taschenbuchausgabe der Geretteten Zunge und überfliege die Schilderungen der nordbulgarischen Handels- und Industriestadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Canetti hat seine ersten sechs Lebensjahre hier verbracht. Mir selbst stehen nur sechs Stunden zur Verfügung, da ich aufgrund anderer Verpflichtungen nicht über Nacht bleiben kann. Am Abend wird mich ein Fahrer mit dem Auto nach Bukarest bringen. Viktor vom Canetti-Zentrum hat alles für mich organisiert. Die Bahn, in der ich sitze, wird kurz nach der Ankunft in Bulgarien wieder zurück nach Rumänien fahren. Weitere Züge gibt es nicht an diesem Tag.
Ich weiß nicht mehr genau, wann mir der Name Elias Canetti zum ersten Mal begegnete. Vermutlich war es im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität, eine Vorlesungsreihe zum Thema „große Romane des 20. Jahrhunderts“. Veranstaltungen dieser Art würde ich heute nicht mehr besuchen, damals hat mich das angesprochen. Ich war ein unsicherer und schweigsamer Student, hatte spät mit dem Lesen begonnen und kannte die wenigsten Klassiker. Und so hörte ich das erste Mal von der Blendung (1936), Canettis einzigem Roman.
Die Blendung ist ein gewaltiges und verstörendes Buch, das, so hoffe ich, auch heute noch gelesen wird. Zur Lektüre verleitet hat mich damals jedoch weniger die genannte Vorlesung als ein Essay von Susan Sontag über den Literaturnobelpreisträger des Jahres 1981. In ihrem Text Geist aus Leidenschaft beschäftigt sie sich mit Canettis Gier nach Wissen, seiner Fähigkeit zur Bewunderung und seinem Wunsch nach Vorbildern. Wie so oft bei Sontag wollte ich weiterlesen und vertiefte mich vor allem in das autobiographische Werk Canettis: Die gerettete Zunge (1979), Die Fackel im Ohr (1982) und Das Augenspiel (1988). Ein vierter Teil – Party im Blitz. Die englischen Jahre – erschien posthum im Jahr 2003, der Band gehört in die Aufzählung und dann wieder nicht.
”„Rustschuk war ein alter Donauhafen und war als solcher von einiger Bedeutung gewesen. Als Hafen hatte er Menschen von überall angezogen, und von der Donau war immerwährend die Rede.“
Die gerettete ZungeElias Canetti
Ich habe diese Texte vor fast zwanzig Jahren gelesen, denke ich während der Grenzkontrolle in Giurgiu. Der Bahnhof liegt trist vor mir, die zwei rumänischen Beamten lassen sich Zeit. Es dauert eine ganze Weile, bis sich der Zug erneut in Bewegung setzt und wir endlich die Donau passieren. Die Brücke ist furchtbar schmal, doch der Fluss verhält sich ruhig. In Rustschuk dann eine zweite Kontrolle, etwas unkoordiniert. Ich weise Pass und PCR-Test vor und kann am Ende des Bahnsteigs bereits Julia vom Canetti-Zentrum erahnen. Sie hatte angeboten, mich abzuholen. Ich weiß gar nicht, wie sie aussieht, erkenne sie aber sofort.
Das Bahnhofsgebäude ist schön, in der hellen Eingangshalle riecht es nach Herbst. Durch eine Unterführung gelangen wir auf den Boulevard Zar-Befreier – gemeint ist hier Alexander II., der während seiner Regierungszeit die Leibeigenschaft abgeschafft hat –, der ins Stadtzentrum führt. Während wir uns unterhalten und den schnaubenden Bussen lauschen, die an uns vorbeiziehen, sehe ich Anzeigentafeln und Straßenschilder, die ich nicht verstehe, sehe ich rauchende Männer vor Lebensmittelgeschäften, sehe ich alte Telefonzellen, die wohl noch in Betrieb sind, sehe ich Frauen mit aufgespritzten Lippen und Kind im Arm, sehe ich das brutalistische Rathaus von Rustschuk, dessen fabelhafte Hässlichkeit mich sehr beeindruckt. Julia erzählt mir, wie die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt das Gebäude nennen. Ich habe es vergessen.
Gleich beim Rathaus, an einem begrünten Platz mit Statuen und Springbrunnen, befindet sich das Canetti-Zentrum. Das weiß ich, weil Julia es mir sagt, denn von außen lässt wenig darauf schließen. Ich erkenne keinen Eingang, kein Türschild, keinen sonstigen Hinweis. Ich sehe nur ein Ecklokal, vor dem einige wenige Menschen sitzen. Dann folge ich Julia in das dunkle Art Café Theater. Im hinteren Teil des Lokals gibt es eine Treppe ins obere Stockwerk, wo sich unser Ziel befindet.
Penka Angelova ist noch mit anderen Dingen beschäftigt. Während ich auf die Leiterin der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft (IECG) warte, schaue ich mich in der Österreichisch-Bibliothek um, die an das Zentrum angeschlossen ist. Ich betrachte Broschüren und Zeitschriften, eine Canetti-Gesamtausgabe, zahlreiche Bilder des Schriftstellers. Ich plaudere ein bisschen mit der Bibliothekarin Dora Stoyanova, bevor Penka Angelova auf mich zutritt. Wir stehen vor einem Tisch, auf dem wissenschaftliche Publikationen der IECG zum Leben und Werk Canettis ausliegen, darüber hinaus aber auch Literatur anderer Autor:innen auf Bulgarisch und Deutsch, erschienen im hauseigenen Verlag, den es seit einigen Jahren gibt. Einige Titel hat Angelova selbst übersetzt.
Sie bittet mich zum Fenster, weil sie rauchen möchte. Hier unterhalten wir uns über ihre vielfältige Arbeit, während sie sich eine nach der anderen ansteckt. Ich will mithalten, kann aber nicht, weil ich heute noch nichts gegessen habe. Ich klammere mich an mein Wasserglas, mein Magen knurrt. Zwischendurch wird Penka Angelova etwas ungehalten, weil ich ein paar allgemeinere Fragen stelle, die auch eine simple Online-Recherche hinreichend beantwortet hätte. Sie möchte keine Zeit verschwenden und verweist bestimmt auf ihre Webseite. Sie gebe detailliert Auskunft über die vielen wissenschaftlichen, literarischen und kulturpolitischen Veranstaltungen, Projekte und Publikationen der Canetti-Gesellschaft.
Ich fühle mich ein wenig überrumpelt, bin aber auch erleichtert, dass sie mich mit meinen Sollte-man-wohl-irgendwie-unterbringen-Fragen in die Wüste schickt. Sie ermöglicht uns damit ein echtes Gespräch. Und so schwärmt sie von Georgi Gospodinovs neuem Roman Zeitzuflucht und erzählt von ihrer langjährigen Freundschaft mit Ilija Trojanow. Und so erzählt sie mir von ihrer Jurytätigkeit für den Elias-Canetti-Literaturpreis, der alle zwei Jahre vergeben wird, und berichtet vom Internationalen Literaturfestival der Stadt Rustschuk, das in diesem Jahr unter dem Motto „Der Atem Europas“ stattgefunden hat. Am Ende reden wir lange über die bulgarische Literaturszene und einzelne Titel, die auch für den deutschsprachigen Raum interessant sein könnten. Noch eine Zigarette, dann verabschiedet sich Penka Angelova von mir. Sie ist an diesem Freitagnachmittag noch mit vielen anderen Dingen beschäftigt.
”„Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt für ein Kind, und wenn ich sage, daß sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulängliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören.“
Die gerettete ZungeElias Canetti
Gemeinsam mit Julia verlasse ich das Zentrum. Der Platz vor dem Zentrum ist nun deutlich belebter. In einem nahgelegenen Restaurant gehen wir eine Kleinigkeit essen. Frühstück am späten Nachmittag. Im Anschluss spazieren wir durch die Innenstadt, dann führt mich Julia zum Canetti Haus. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und von der Familie Canetti väterlicherseits als Lebensmittelgeschäft genutzt. Heute finden hier Lesungen, Konzerte, Performances und Ausstellungen statt. Es ist zu einem Kulturzentrum geworden.
Die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes lässt sich nicht mal mehr erahnen. Ich sehe ein schönes Wohnhaus mit großen Fenstern. An der Tür weist ein Poster auf eine Lesung von Max Czollek hin, er war vergangene Woche in Rustschuk. Wir betreten einen großen, kühlen Raum. Die Wände sind nicht verputzt, nichts ist verputzt, die Treppen sind nackt. Es sind karge Räumlichkeiten, die durch Menschen und Gespräche belebt werden wollen. Momentan stehen hier nur ein paar Stühle, Licht- und Tontechnik, ein Heizpilz sowie vereinzelte Kunstwerke.
Während ich mich umsehe und Photos mache, wird es draußen dunkel. Es ist mein Signal zum Aufbruch. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Julia informiert den Fahrer. Er werde nicht lange brauchen, sagt sie, er sei in wenigen Minuten in unserer Straße. Wir verabschieden uns, es war ein schöner Tag.
Mein Fahrer heißt Pavel. Ich setze mich zu ihm nach vorn auf den Beifahrersitz. Wir überqueren die Donau, warten einen Moment am Grenzübergang nach Rumänien, dann geht es schnell voran, viel schneller als mit dem Zug. Die Straßen sind kaum befahren und nur schwach beleuchtet, in der Dunkelheit kann ich nur wenig erkennen. Am Ende der Reise empfangen mich die vielen Lichter von Bukarest. Hier lebe ich.
[Mein Aufenthalt in Rumänien sowie meine Reise ins bulgarische Rustschuk wurden mir durch ein Stipendium des Vereins Internationale Journalisten-Programme ermöglicht.]