Du möchtest einen Text schreiben und hast dir fest vorgenommen, den ganzen Firlefanz diesmal einfach wegzulassen. Du willst wirklich darauf verzichten, linst dann aber doch in dieses Internet, nur um zu erfahren, dass Firlefanzerēy so viel wie „alberne Posse“ oder „unwitziger schneller Einfall“ bedeutet. Im Grunde eine adäquate Bezeichnung deiner Arbeit, denkst du dir. Doch das müssen andere entscheiden, korrigierst du dich.
Du beginnst also mit deinem Text. So etwas wie eine Rezension soll am Ende dabei herauskommen, dafür hast du sogar ein Buch gelesen. Dieses Buch wurde von Terézia Mora geschrieben und trägt den schönen Titel Fleckenverlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch (Luchterhand Verlag, 2021). Du hast es zunächst nicht ganz ernst genommen, es als ein Zwischenwerk abgetan, hast es bloß eingeschoben, allein zur Vorbereitung deines Podcasts mit der Autorin gelesen. Dabei ging es im Gespräch doch vorrangig um Moras Übersetzung des Romans Omertà von Andrea Tompa. Es war ein Akt der Prokrastination. Du wolltest dich vor den 950 Seiten Tompa drücken, mir machst du nichts vor!
Du drückst dich auch vor diesem Text. Dass eine Rezension dabei herauskommen soll, das war von Anfang an gelogen. Nun sitzt du schon am dritten Absatz und kommst noch immer nicht zum Punkt. Das hältst du „irgendwie“ für literarisch, denn hatte nicht László Krasznahorkai neulich auf einer Veranstaltung von seinem Unbehagen gesprochen, beim Schreiben einen Punkt zu setzen? (Aus diesem Grund besteht sein aktueller Roman Herscht 07769 aus nur einem einzigen Satz.) Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, weißteselbst, doch du wolltest diesen Punkt (aus dem nun ein Kalauer wird) unbedingt einbauen.
Langsam verliere ich (und nicht nur ich) die Geduld, also reiß dich zusammen und konzentriere dich auf deinen Text! Du hast doch schon beim Lesen von Moras Arbeits- und Tagebuch den Entschluss gefasst, dich in erster Linie mit dem Begriff Fleckenverlauf auseinanderzusetzen zu wollen. Das Wort gefällt dir und du ahnst, warum. Also mach was draus! In Moras Tagebuch, das sie von Dezember 2014 bis Mai 2020 geführt hat, taucht das Wort im Eintrag vom 10. September 2017 auf. Irgendwo in der Mitte also, in der „härtesten Zwischenzeit für einen Menschen und eine Schriftstellerin“, wie Mora schreibt, die Zeit vom 43. bis zum 50. Lebensjahr im Blick. Irgendwo in der Mitte eines Menschenlebens also, bei vielen der Tiefpunkt der persönlichen Zufriedenheit, wie Mora im Nachwort erzählt.
Fleckenverlauf. Ein Blutungsereignis im subkutanen Bereich, hier entstanden durch einen Fahrradunfall. Die Hämatome erstrecken sich vom Unterschenkel, über das Knie, hin zum Oberschenkel. Eine Randbemerkung wie viele andere im Buch, unaufgeregt und nüchtern geschildert, dabei Sinnbild für die benannte Zwischenzeit. Temporäres Abzeichen einer Nachlässigkeit, das sich ständig in Form und Farbe ändert, das sich irgendwann völlig auflöst. Der größte Schmerz vergangen, daswirdschonwieder, doch noch ist das nicht der Fall.
Fleckenverlauf. Ein Gegenbegriff. Terézia Mora hat als Schriftstellerin fast alles erreicht, was man erreichen kann, denkst du dir, hat sämtliche Preise gewonnen. Sie ist nicht unnötig bescheiden, in keiner Zeile, gewiss nicht. Doch ihr Fleckenverlauf ist eben kein Lebens(ver)lauf, in dem ausschließlich Erfolge verzeichnet sind. Tatsächlich spielen diese im Buch kaum eine Rolle. Stattdessen: das Gefühl von Sinnlosigkeit und Ohnmacht, Klagen über Zeitmangel und Termine, der Tod von Péter Esterházy, Enttäuschung und Bitterkeit. Moras Einträge sind persönlich, doch nie indiskret. Ihr Fleckenverlauf ist keine Nabelschau. Wasdieweltverlernthat.
Im kurzen Eintrag vom 10. September 2017 findet sich auch folgender Satz: „Ich schreibe es auf, weil man es vielleicht verwenden kann […].“ Wie noch unterscheiden zwischen einem Arbeits- und Tagebuch, fragst du dich, obwohl die Antwort offensichtlich ist. Mora schreibt von ihren Lektüren, ihrem Arbeitsalltag, Krankheiten, Reisen, ihrem Verhältnis zu Ungarn und zur Welt, baut Briefe und Schnappschüsse ein. Das Leben, auch eine Materialsammlung, natürlich. Beim Lesen fühlst du dich der Autorin nahe (sie lebt in deinem alten Bezirk in Berlin, auch sie leidet unter Flugangst) und weißt doch genau, dass das unmöglich ist. Dass das irgendwie auch schön ist.
Coda
Du hast einen Text geschrieben. Die Arbeit ist getan. Die Photos wirst du selbst besorgen, sagst du dir, obwohl du alle Hände voll zu tun hast. Mit einer Pressekarte gehst du ins Wiener Weltmuseum und schaust dir die Ausstellung 책거리 Chaekgeori. Our shelves our selves (21. April 2022 – 11. April 2023) an. Der Begriff Chaekgeori (dt. „Bücher und Dinge“) bezeichnet in der koreanischen Genre-Malerei ein Arrangement von Büchern, Regalen und diversen Gegenständen und Kostbarkeiten. Du machst einige Photos, hältst Moras Fleckenverlauf vor die Kameralinse. Die Zusammenhänge sind dir nicht ganz klar, doch du bist der Meinung, dass das irgendwie auch schön ist.