Katarína Kucbelová: Die Haube

Von 29.09. 2024 Bücher

Ein kleines Dorf in der Mittelslowakei, abseits gelegen in den Bergen. Šumiac. Es lässt dich nicht los, lässt dich einfach nicht los. Also begibst du dich direkt dorthin, gehst nicht über Los, ziehst nichts ein, ziehst gar nichts ein, sondern ziehst aus, lässt Bratislava hinter dir. Schaust gen Osten, immer gen Osten, aber nicht zu weit. Dein Weg ist beschwerlich genug. Bus und Bahn tragen dich ins Randgebiet. Die Fahrt dauert mehrere Stunden. Das machst du jetzt alle paar Wochen.

Alle paar Wochen setzt du dich aus. Du weißt, was auf dem Spiel steht und was da kommen wird. Weil es längst da ist? Die Dinge liegen auf der Hand. Wir führen Gespräche, lesen in der Zeitung, schauen aus Fenstern und auf Bildschirme, starren unentwegt der Gegenwart entgegen. Und sehen hässliche Bilder, wollen sie von uns weisen und fühlen uns erschlagen, Katarína.

Darf ich dich Katarína nennen? Jetzt tue ich es schon wieder. Wir haben nur einmal telefoniert (aber hier spreche ja nicht ich). Verzeih mir auch mein blödsinniges Pathos, das so gar nicht zu dir und zum Ton deines dokumentarischen Romans Die Haube (INK Press, 2023 – übersetzt von Eva Profousová) passt. Ein ruhiger, besonnener Text. Eine stille Erkundung, eine Annäherung in kleinen Schritten.

Vielleicht der einzig gangbare Weg, sich den großen Themen zu widmen: Antidemokratischen Bewegungen, dem reaktionären Zeitgeist. Einem politischen System, das die sogenannte Vergangenheit, Folklore und Traditionen, für seine eigenen Zwecke missbraucht und scheinbar ungehindert damit durchkommt. Berge wie Bretter vorm Kopf. Holzköpfe. Holz, in Blöcken, überall.

„[I]ch verstehe nicht, warum wir in der Slowakei statt Restaurants hölzerne Kolibas haben müssen, diese Blockhütten für jeden Zweck, an der Autobahn, zwischen den Plattenbauten, in der Stadt und auf dem Land. Holzhütte als Bushaltestelle, ehemaliger Kindergarten zur urigen Holzhütte mit einer mit Maisblättern dekorierten Pizzeria umgebaut, obwohl es in der halben Slowakei für Maisanbau zu kalt ist. Damenfriseur in einer Holzhütte, Holzhütte als Café Venezia.“

Katarína KucbelováDie Haube

Dieser venezianische Kaffee schmeckt dir nicht, entfaltet aber dennoch seine Wirkung. Die Plörre plärrt und lässt dir keine Ruhe. Brauchtum und Folklore sind dir in all ihrer fadenscheinigen Natürlichkeit suspekt. Naturgemäß. Und doch (oder gerade deshalb) ziehen sie dich an. Dich interessiert, was sie denjenigen, die sie abseits politischer Vereinnahmung tagtäglich leben und ausüben, wirklich bedeuten. Und so reist du in das Dorf Šumiac am Fuße der Niederen Tatra, beim symbolisch aufgeladenen Berg Kráľova hoľa (dt. Königsberg), um den sich Nationalmythen und Volksweisen ranken.

Du kennst diesen Ort aus einer populären Kochshow, in der regionale Rezepte vorgestellt werden. Hübsch heiteres Heimatprogramm. Dein Ehemann war an der Produktion beteiligt. In der Sendung tauchte auch eine alte Näherin auf, die du in deinem Buch Iľka nennst. Du suchst ihre Nähe, die Nähe zum Handwerk, willst dir von ihr beibringen lassen, wie man eine traditionelle Kopfbedeckung herstellt, die in der Region zu ganz unterschiedlichen Anlässen getragen wird und in vielen verschiedenen Versionen existiert, da sich Traditionen stets verändern, nicht festgeschrieben und unveränderlich sind, sondern kontinuierlich weitergeschrieben werden. Das macht es nicht leicht, diese Tracht zu beschreiben.

Eine sonderbare Prämisse für ein Buch, so eine Haube. Stoffe, Muster, Zwirn. Das überlebt keinen Elevator-Pitch, Katarína. Auch du weißt zunächst noch nicht, was du da schneiderst. Doch du hast den Faden aufgenommen, besuchst Iľka, erfährst von ihrem beschwerlichen Leben und arbeitest geduldig. Hörst genau zu, machst zunächst keine Notizen. Die Form, für die du sowohl Verfahren der Reportage als auch genuin literarische Mittel verwendest, entwickelt sich nach und nach. Aus deinen Beobachtungen und Gesprächen wird am Ende eine tiefgreifende Auseinandersetzung über soziale Ausschlussmechanismen und die prekäre Situation der Roma im Ort. Das eigentliche Thema deines unüblichen Buches.

„Auf den ersten Blick kommt es einem vor, als wären die Roma in der Überzahl. In Telgárt [Gemeinde in der Nähe von Šumiac, T. S.] auf jeden Fall. Das sah ich gleich, als ich im Bus Platz nahm. Alle, mich inbegriffen, saßen im hinteren Teil, die Trennlinie verlief an der hinteren Tür. Vorne zwei weiße Frauen. Als hätte ich die Segregation nicht eingehalten.“

Katarína KucbelováDie Haube

Šumiac ist ein Ort, an dem zwei Bevölkerungsgruppen zusammen- oder genauer: aneinander vorbei leben. Eine slowakische Mehrheit und eine Roma-Minderheit. Das Leben der zwei Communities mag sich nicht sonderlich voneinander unterscheiden. Doch gleich neben der Roma-Siedlung gibt es einen Ortsteil, in dem die Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen leben. Die Wohnungen sind klein, schlecht isoliert, haben häufig keine Heizung. Mit diesem Teil des Dorfes wollen auch viele Menschen der Roma-Siedlung nichts zu tun haben. Man möchte sich davon in gleicher Weise abgrenzen, wie sich die slowakische Bevölkerung von den Roma abgrenzen will.

Du kennst diesen Ort aus einer populären Kochshow, Katarína. Weder die Roma-Siedlung noch der verarmte Teil der Gemeinde fanden in der Sendung Erwähnung, wurden nicht gezeigt. So etwas ist einfach nicht üblich. Nicht üblich in einer Kultur der Blockhütte.

Postskriptum: Für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Kulturaustausch habe ich mich mit der slowakischen Autorin Katarína Kucbelová über ihren Roman Die Haube unterhalten. Mein Blog-Beitrag verwendet Ausschnitte aus unserem Gespräch. Die Photos entstanden in der Albertina Klosterneuburg.

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