Pfingstrosen, Mohnblumen und Vergissmeinnicht
Das Sanatorium war noch herrschaftlicher, als ich es mir ausgemalt hatte. Ein pfirsichfarbenes Gebäude, massiv und hell zugleich, vier Stockwerke hoch mit einem fünften, dem Dachgeschoss, alle Fenster blickten nach Südost. Stattlich war auch das Anwesen, die penibel gepflegte Gartenanlage, Pfingstrosen und Mohnblumen, vor allem aber blau schimmernde Vergissmeinnicht. Die Geschäfte müssen gut laufen, dachte ich laut, als ich dem Fahrer das Geld gab und vorsichtig aus dem Taxi stieg, um dann trotzdem über die Bordsteinkante zu stolpern.
Vor dem Tor zur Villa traf ich auf eine brummige Menschentraube. Sie bestand ausschließlich aus Männern im mittleren Alter, allesamt in Grau gekleidet. Wie konnte es zu einem solchen Auflauf kommen, dachte ich leise, Termine bei Dr. Gaustín waren seit Monaten vergeben, eine spontane Besichtigung des Gebäudes ein Ding der Unmöglichkeit. Weil mit keiner Antwort zu rechnen war, steckte ich mir hastig eine Zigarette an. Fast alle grauen Herren taten es mir gleich, rauchten stetig, aber antriebslos; der eine oder andere sogar eine Zigarre, aber nur, um eine überflüssige Momo-Referenz in diesen Text zu schmuggeln (ja, das lassen wir jetzt so).
Es begann zu regnen. Doch schon bald wurde mein Name aufgerufen, das Tor öffnete sich und ich betrat das vergissmeinnicht-schimmernde Areal. Auf dem Weg zum Eingang konnte ich in einem Gebüsch zwei räudige Karnickel entdecken, die es wie zwei räudige Karnickel miteinander trieben. Sie sahen dumm, aber glücklich aus. Mehr kann man sich vom Leben eigentlich nicht wünschen, dachte ich laut. Auch ich wollte endlich wieder dumm (grundlos zufrieden) und glücklich sein, aus diesem Grund war ich ja hier.
Zuletzt ging es mir nicht gut, mein Erinnerungsvermögen ließ mich im Stich, gerade mein Kurzzeitgedächtnis versagte immer häufiger. Ich fühlte mich verloren und sehnte ich mich nach einer Zeit zurück, die mir vertraut war, in der ich mich zurechtfand, in der ich jung, gesund und erfolgreich war. Natürlich hat diese Zeit nie existiert, doch das blendete ich aus. Nachträglich ließ sich alles richten. Mit Gaustín hatte ich bereits ein konkretes Jahr festgelegt, das besonders geeignet schien, meine Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Jahr wurde heute auf eine Probe gestellt.
Дружба
Ich folgte Gaustín in den Ostflügel des Gebäudes, in den zweiten Stock. Am Ende eines langen Korridors befand sich die Tür zu einem Raum, der mich in meine Kindheit zurückversetzen sollte. Noch bevor wir das Zimmer betraten, nahm ich den Geruch von Nudeln mit Tomatensoße und Jägerschnitzel wahr, von ungesüßtem, lauwarmem Hagebuttentee. Leise erklang das Kinderlied Pfannekuchenschreck von der LP Der Traumzauberbaum (AMIGA 845 197). Das war reichlich abgedroschen, erfüllte aber seinen Zweck. Hier waren Profis am Werk.
Im Zimmer fiel mein Blick als erstes auf ein Porträt von Erich Honecker. Seine Haut so beige wie sein Anzug wie die Wand hinter dem Bild und wie der frisch gebohnerte PVC Boden. Ich sah mich im Raum um, entdeckte ein Kasperle-Theater, bunte Bauklötze aus Holz, Spielfiguren aus Plaste und Elaste, einige Liegen für den Mittagsschlaf, auch Bücher (Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt, Alfons Zitterbacke u. dgl. m.).
Der Raum war hell erleuchtet, die gelbe Sonne gaffte gierig durchs Fenster, obwohl es eben noch geregnet hatte. Und dann, ein Glitch. Ich konnte eins und eins zusammenzählen: Der Sonnenschein und der Ausblick auf den Innenhof und den belebten Spielplatz, all das musste irgendwann nachgestellt und aufgenommen worden sein und lief nun in einer Endlosschleife. Am unteren Fensterrand erkannte ich das Logo des südkoreanischen Unternehmens LG Electronics und wurde etwas wehmütig. Der VEB Kombinat Robotron bestand schon lange nicht mehr.
Ich war zurückgekehrt in das Jahr 1988, in meinen Kindergarten Freundschaft, der bis heute existiert (nur das Land drumherum ist mittlerweile verschwunden). Eine Kinderkombination in standardisierter Plattenbauweise, in unmittelbarer Nähe eines standardisierten Typenschulbaus, in unmittelbarer Nähe eines begrünten Friedhofs mit standardisierten Grabstätten. Von der Wiege bis zur Bahre, auf nur wenigen Quadratmetern.
Gaustín berührte mich vorsichtig am Ellbogen und fragte noch vorsichtiger, ob ich mich hier wiederfinden oder doch wenigstens zurechtfinden würde, ob es mir hier gut erginge. Doch das war nicht der Fall. Es ging mir nicht gut, es ging mir überhaupt nicht gut. Ich hatte mir meine Vergangenheit anders vorgestellt. Lauter, lebendiger, irgendwie sozialistischer, mit einer Urkunde für jeden erfolgreichen Atemzug. Schmollend erklärte ich Gaustín, dass die Vergangenheit für mich vergangen war und die Gegenwart meine Gegenwart sein sollte. Mehr sagte ich nicht. Gut, schmollte nun wiederum Gaustín. Mehr sagte er nicht.
Der Übersetzer wird mal wieder nicht auf dem Buchcover genannt, darf aber wenigstens hier etwas sagen und bekommt sogar noch einen Schnaps dafür
Auf dem Weg zum Ausgang passierten wir eine schmale Tür, die aufgrund ihrer aufdringlichen Beleuchtung kaum zu übersehen war. In pinken und blauen Leuchtstoff-Lettern war der Begriff Zeitzuflucht über dem Rahmen angebracht. Beide U’s flackerten. Das hat sich die Marketing-Abteilung des Aufbau-Verlags so ausgedacht, flüsterte mir Gaustín ins rechte Ohr. Schauen Sie ruhig hinein, Sie werden ohnehin nicht weit kommen, flüsterte mir Gaustín nun ins linke Ohr.
Tatsächlich war es ein sehr kleiner Raum, nicht viel größer als eine Abstellkammer. Gerade einmal ein Tisch und zwei Stühle passten in den Verschlag. Das hinderte die zwei Herren, die es sich hier gerade gemütlich machten, jedoch nicht daran, es sich hier gerade gemütlich zu machen. Bei den Männern handelte es sich um den bulgarischen Autor Georgi Gospodinov und seinen Übersetzer Alexander Sitzmann. Die beiden aßen Pflaumenkuchen mit Schlag, tranken Blümchenkaffee mit gesüßter Kondensmilch und sahen recht zufrieden dabei aus.
Sie unterhielten sich so angeregt, dass ich sie nicht unterbrechen wollte, um es dann nach wenigen Sekunden doch zu tun. Wenigstens mal Hallo sagen. Naaaaa, entfuhr es mir wie ein leiser Furz, alles klar bei euch? Durchaus, antwortete Alexander Sitzmann, aber wie du vermutlich erkennen kannst, essen wir hier gerade Pflaumenkuchen mit Schlag, trinken Blümchenkaffee mit gesüßter Kondensmilch und sehen recht zufrieden dabei aus. Wir haben also zu tun. Und da uns auch noch ein Herrengedeck zugesichert wurde, fehlt mir leider die Zeit, dir von Georgis neuem Roman zu berichten, um den es in diesem Text ja angeblich gehen soll. Das darfst du schön selber machen. Drei Absätze, das schaffst du!
Ich fühlte mich ertappt
Bärbeißig, d.h. in mürrischer Weise unfreundlich, wandte ich mich ab und schwor mir, seiner Aufforderung auf keinen Fall nachzukommen, sicher nicht von Gospodinovs Roman zu erzählen, in dem Sanatorien der Vergangenheit entstehen, in denen Demenzkranke in eine Zeit zurückversetzt werden, an die sie sich erinnern können und in der die Welt sicher und geordnet erscheint, dass sich dieses Therapiemodell in der Folge als so erfolgreich erweist, dass es zu einem politischen Programm wird und ganze Staaten in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit zurückkehren möchten und per Referendum über das konkrete Jahr abstimmen lassen und die Vergangenheit fortan wuchert und austreibt und alles verschlingt.
Was sollte ich auch schreiben über diesen Gedächtnis/Verlust-Roman, der das Erinnern auf einer persönlichen und politischen Ebene zum Thema macht und die Amnesie und das Vergessen zum strukturgebenden Element, zum poetologischen Prinzip erklärt, über diese postmoderne Versuchsanordnung, dieses Spiel der Zeichen, Zeiten und Identitäten, das in all seiner Unwahr-schein-lächerlichkeit, gelesen im Hier und Jetzt, fast schon möglich erscheint, die sogenannte Realität gegebenenfalls schon überrundet hat? Nein, dazu würde ich nichts sagen.
Was sollte ich denn schon behaupten über ein Buch, das mit dem Anfang von Welt und Zeit beginnt und mit einem Reenactment des Zweiten Weltkrieges (dem Ende der menschlichen Zeit) abschließt, das AllesAllesAlles und gleichzeitig sehr wenig will, das sich dem Moment verschreibt, dem Episodenhaften, der Abschweifung, dem Aperçu und dem Exkurs, das aus guten Gründen immer mehr zerfasert und auseinanderbricht, diese Auflösung nebst Auslöschung der Erzählinstanz jedoch inkonsequent umsetzt, zu vorsichtig und zu verhalten, das in formaler Hinsicht scheitert und letztlich einen riesigen Scherbenhaufen zurücklässt, der aber dennoch funkelt, selbst bei Regenwetter. Aber dazu würde ich nichts notieren, keinen einzigen Satz, neinnein.
Meine jugendliche Verweigerungshaltung wollte ich nun auch Alexander Sitzmann gegenüber zum Ausdruck bringen. Dieser jedoch verschluckte sich gerade an einem Stück Pflaumenkuchen und musste mit reichlich Blümchenkaffee nachspülen. Er sah recht unzufrieden dabei aus, so dass ich mich letztlich unverrichteter Dinge vom Acker machte, oder genauer: in Richtung Ausgang und Gartenanlage schwirrte. Gaustín, der sich bereits um einen neuen Klienten kümmerte, hatte in diesem Moment schon jegliches Interesse an mir verloren und ließ mich wortlos von dannen ziehen.
Der Regen hatte nachgelassen, die Luft wahr kühl und angenehm, im Gebüsch raschelte es noch immer. Und während ich in den wolkenverhangenen Himmel blickte, wurde mir plötzlich bewusst, dass sich niemand, absolut niemand in dieser Klinik an mich würde erinnern können. Ich bestellte mir ein Taxi. Die Nummer hatte ich im Telefon gespeichert, um sie mir nicht merken zu müssen.