Gaito Gasdanow – Das Phantom des Alexander Wolf

Von 17.10. 2021 Bücher

A.

Ich musste mich verlaufen haben. Wie sonst war ich in dieses verlassene Parkhaus geraten, das mir auch auf den zweiten Blick völlig unbekannt erschien. Ich konnte es mir nicht erklären und kann es bis heute nicht. Vielleicht hatte ich einfach den Verstand verloren, wie es in jener Zeit häufig der Fall war.

Es war eine gute Zeit.

Im Parkhaus roch es nach abgestandenem Benzin und warmem Staub. Der Boden unter meinen Füßen war trocken und schmutzig. Ich suchte nach Halt und wählte meine Schritte mit Bedacht. Noch bildete ich mir ein, es sei möglich, mich zurechtzufinden.

Links oben an einem Pfeiler konnte ich ein Schwalbennest erblicken. Ein zunächst seltsames, dann vertrautes Geräusch hatte mich auf die Vögel aufmerksam gemacht. Da sich im Parkhaus keine Fahrzeuge befanden und auch sonst niemand zu sehen war, herrschten allein die Tiere über das Gebäude. Es war ein Vogelhaus.

All das wird nicht den Tatsachen entsprechen und hat wenig mit dem „Phantom des Alexander Wolf“ zu tun, flüstere ich mir selbst ins Ohr. Heute, zwei Jahre später (mein Lesetempo ist bescheiden).

Da pfeif ich drauf, zwitscherte die Schwalbenmutter schon damals und tut es noch immer, keucht dabei aber ein wenig, so dass man sich Sorgen machen muss (die Lebenserwartung einer Schwalbe ist bescheiden).

Das Gefieder geht ihr langsam aus und die Kinder sind längst aus dem Haus. Das reimt sich, freut sich der alternde Vogel. Doch diese Freude kann nicht verbergen, dass der Schwalbe diese sogenannten Tatsachen und Zusammenhänge völlig an den Steuerfedern vorbeigehen.

Die Realität hat sich nicht bewährt, ihr ist einfach nicht zu trauen, knuspert es leise aus dem Vogelnest. Und wäre das nicht endlich die hanebüchene Überleitung zum Roman von Gaito Gasdanow, nach der du schon seit etlichen Absätzen suchst? Magst du meine Hilfe nicht annehmen?

Habe ich denn eine andere Wahl, knuspert es leise aus meinem Mund.

B.

Der Roman Das Phantom des Alexander Wolf des russischen Autors Gaito Gasdanow beginnt mit einem Geständnis. Bereits im ersten Satz berichtet der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler, dass er vor Jahren einen Mord begangen habe, der ihn noch immer verfolgt. Die Erinnerung an die Tat sei die bedrückendste Empfindung seines gesamten Lebens.

Ein erstaunlicher erster Satz und ein noch besseres Täuschungsmanöver. Denn nicht nur verführt die Beichte des Erzählers dazu, das Buch als einen Kriminalroman zu lesen, was es nicht ist (zweifelhafter Nebensatz). Der Protagonist täuscht sich mit dieser Aussage auch selbst, da sich der Mord, von dem er in der Folge erzählt, als eine Einbildung herausstellen wird (weiterer zweifelhafter Nebensatz).

Dieser Mord, der im juristischen Sinne keiner ist, ereignete sich während des Russischen Bürgerkriegs: Im Alter von nur 16 Jahren kämpfte der Protagonist im Süden Russlands auf Seiten der Weißgardisten gegen die Bolschewiki. Allein und auf der Suche nach seinen Kameraden kam es zu einem Angriff aus dem Hinterhalt, bei dem sein Pferd getötet wurde und zu Boden ging. Er selbst blieb unverletzt und es gelang ihm, den feindlichen Reiter in einem Akt der Notwehr zu töten und mit dem Pferd des Sterbenden zu fliehen.

Heute, im Paris der 1930er Jahre, lebt der Ich-Erzähler in der französischen Emigration und verdingt sich als Journalist. Die Episode aus dem Russischen Bürgerkrieg ist für sein Leben und sein Selbstbild von unumstößlicher Bedeutung, erhält jedoch in demjenigen Moment eine völlig neue Dringlichkeit, als ihm durch Zufall ein Buch des englischen Autors Alexander Wolf in die Hände gerät. Denn die darin enthaltene Erzählung Das Abenteuer in der Steppe ist eine akkurate Rekonstruktion dessen, was er im Kriegs erlebt hat. Der Verfasser musste demnach der bleiche Unbekannte sein, auf den er damals geschossen hatte. Er musste die Tat überlebt haben.

Die Realität hat sich nicht bewährt, ihr ist einfach nicht zu trauen.

Dass dem russischen Emigranten in der französischen Hauptstadt dieser englische Erzählband in die Hände fällt, ist der erste von vielen Zufällen in Gasdanow Roman, der sich in den Worten des Protagonisten als „ein unglaubliches Zusammentreffen von Umständen“ bezeichnen lässt. Die Häufung merkwürdiger Wendungen und Fügungen, von denen sich einige schon vorab erahnen lassen, ist in der Tat unglaublich, macht die literarische Fiktion jedoch nicht unglaubwürdig. Das mag einerseits dem eleganten Stil und der geschickten Komposition des Werkes zu verdanken sein. Das mag andererseits an der mysteriösen Atmosphäre und Spannung liegen, die das Buch bis zum Schluss aufrechtzuerhalten weiß.

Die Suche nach Alexander Wolf treibt den Erzähler an, lässt ihn nicht los. Jede Reise, jeder Blick, jede weitere Begegnung in Paris scheint mit dem unbekannten Verfasser des Abenteuers in der Steppe verknüpft. Er ist das Phantom, um das der Roman kreist und segelt. Doch Alexander Wolf steht nicht im Zentrum von Alexander Wolf.

Gaito Gasdanow ist nicht zu trauen.

C.

Der Roman Das Phantom des Alexander Wolf von Gaito Gasdanow (1903-1971) erschien erstmals 1947/48 in einer russischsprachigen Literaturzeitschrift in New York. So wie auch die anderen Werke des seit 1923 in der französischen Emigration lebenden Autors wurde das Buch wohlwollend von Kritik und Publikum aufgenommen. Nach seinem Tod geriet der Schriftsteller und Journalist in Vergessenheit, wurde jedoch in den 1990er Jahren in Russland wiederentdeckt, wo seine Romane und Erzählungen nun erstmals erscheinen konnten.

Die deutschsprachigen Ausgabe des Phantoms wurde im Jahr 2012 in der Übersetzung und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze im Carl Hanser Verlag veröffentlicht.

D.

Ein leises Rascheln dringt aus dem Vogelnest.

Du erzählst sehr wenig über das Buch. Du bist leicht zu durchschauen. Dass der Roman um das Phantom segelt, das hast du nur für mich eingebaut. Ganz falsche Wortwahl, kein Mensch redet so, piepste die Schwalbenmutter. Mich macht das sehr fröhlich, nur wird es deine Leserinnen und Leser irritieren.

Habe ich denn eine andere Wahl, raschelt es leise aus meinem Mund.

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