Aber wir wissen nicht, was es mit Jacobus Vrel auf sich hat. Wir können nur mutmaßen. Hastig bieten wir dir an, zusammengetragenes Halbwissen in holprig-halbseidene Halbsätze zu verpacken. Du blinzelst in die Sonne und lächelst verwegen. Das übliche Entgegenkommen also. Ja, du kennst das schon. Wir aber kennen weder Herkunft noch Lebensdaten des Malers. Es existieren keine schriftlichen Quellen, die uns weiterhelfen. So viel wissen wir: Er war Niederländer, Flame oder Westfale, lebte im 17. Jahrhundert und war vor allem in Holland aktiv.
Vrels kulissenhafte Straßenszenen und kargen Interieurs wurden lange Zeit dem weitaus bekannteren Jan Vermeer zugeschrieben. Heute jedoch sieht man in ihm einen Vorboten der Moderne und misst ihm die Bedeutung bei, die er verdient. „Nachruhm scheint also das Los der Nichtklassifizierbaren zu sein, das heißt derjenigen, deren Werk sich weder in die gegebene Ordnung einfügt noch ein neues, für die künftige Klassifikation geeignetes Genre ankündigt“, so Hannah Arendt.
Doch die Frau am Fenster (1654) gibt uns Rätsel auf. Angeregt tauschen wir uns aus, machen Notizen, wetteifern um die beste Idee und leeren die Gläser. Am Ende spielen wir Stein-Schere-Papier und verlieren in jeder Runde gegen uns selbst. Unsere Münder und Hände sind taub geworden. Es bleiben: ungelöste Blickverhältnisse. Was sieht die Frau dort unten in der Gasse, was beschäftigt sie? Die Fensterscheiben sind so undurchlässig wie die Welt ihrer Gedanken. Wir können nur mutmaßen. Aber so weit waren wir schon. Nun sind wir beleidigt, denn sie interessiert sich nicht für uns. Ahnt sie, dass wir sie durch die Augen des niederflämfälischen Malers beobachten? Ach was, sie scheißt auf uns! Sie atmet ganz ruhig, das macht uns nervös.
Wir vertauschen die Vorzeichen, weil wir es können. Wir können nicht alles, zum Glück. Wir flüstern der Frau am Fenster Verse der belarussischen Autorin Volha Hapeyeva ins Ohr. Der einsame Mutantengarten (Edition Thanhäuser, 2020) wächst und gedeiht, seine Triebe tragen die Frau über zwei oder drei Etagen. Dort oben steckt sie sich doppelsinnig eine Zigarette an, lacht uns aus und lauscht einem frühlingshaften Schauer. In der Gasse unter ihr funkelt das Pflaster und sie denkt über das Fallen nach. Darauf haben wir keinen Einfluss. Unser Diktat kann ihr keine Wünsche diktieren. Leise hören wir sie singen, meist trifft sie die Töne der Tochter Guðmunds: Ich stelle mir vor, wie sich mein Körper anhören würde, wenn er gegen diese Steine knallt. Und wenn er aufschlägt, werden meine Augen geschlossen oder offen sein?
Das Kunststoff-Metronom sitzt taktvoll da und lässt zu, dass man es quält. Plaste und Elaste sind beständig, beständiger als jede Diktatur. Und deshalb geben wir die Hoffnung nicht auf. An unserer Seite wissen wir Matthias Göritz, Martina Jakobson und Uljana Wolf, die die Gedichte der in Minsk geborenen Volha Hapeyeva ins Deutsche übertragen haben. Zwischen den Texten – die Körper, Sprache und Politik erkunden (die Trennlinien verblassen) – finden sich Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. Wir betreten diesen Lyrikband wie ein Museum, in dem wir nichts anfassen dürfen und doch alles berühren. Mit unseren tauben Händen und Mündern, die wir im Spiel verloren haben. Um den Verlust zu überwinden, sehnen wir uns nach Gemeinschaft. Wir geben die Hoffnung nicht auf. Die Frau am Fenster atmet ganz ruhig. Sie fühlt sich sicher dort oben, im zweiten oder dritten Stock.
Lyrik im KHM
Dies ist der vierte und letzte Teil einer Lyrik-Serie, die Literatur in einen neuen Kontext setzen möchte. In Kooperation mit dem Kunstvermittler Daniel Uchtmann vom Kunsthistorischen Museum in Wien entsteht ein jedes Buchphoto der Serie in den Räumlichkeiten des KHM. Der jeweils vorgestellte Lyrikband geht dabei eine Verbindung zu einem ausgewählten Gemälde ein. Dies ist im Fall des Bandes Mutantengarten von Volha Hapeyeva das Bild Frau am Fenster (1654) des Malers Jacobus Vrel.