Ein Dreiklang in Moll: Drei Orte. Drei Zeiten. Das Gepräch mit der Macht, dreimal. Chaos statt Musik.
1 Im Jahr 1937 wartet Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch auf seine Verhaftung. Er weiß, er ist ein toter Mann. Er verbringt die Nächte auf der Treppe vor seiner Leningrader Wohnung, direkt beim Fahrstuhl. Sie holen einen immer mitten in der Nacht. Bereits ein Jahr zuvor wurde der Komponist zum Volksfeind erklärt, sämtliche Werke von den Spielplänen gestrichen. Seine Musik weiche vom Kurs der sowjetischen – und demnach: wahren – Kunst ab, sei verdreht, kleinbürgerlich und formalistisch. Nun wird er ins Große Haus am Liteinyi Prospekt geladen. Sein langjähriger Förderer, der Militärstratege Marschall Tuchatschewski, habe einen Komplott zur Ermordung des Genossen Stalin geplant. Er selbst ist unschuldig, doch das ist irrelevant. Einer Verurteilung und möglichen Hinrichtung kann er nur deshalb entgehen, weil der KGB-Mitarbeiter, der ihn zum Gespräch geordert hat, wenig später selbst in Verdacht gerät und verhaftet wird.
2 Im Jahr 1949 befindet sich Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch im Flugzeug von New York nach Moskau. Rehabilitiert nahm er in den USA als Mitgleid der sowjetischen Delegation am Kultur- und Wissenschaftskongress für den Weltfrieden teil. Stalin hatte ihn telefonisch zu dieser Reise gedrängt, die er als große Demütigung empfand. Eintönig verlas er vorgefertigte Reden, antwortete auf kritische Fragen, wie man es von ihm verlangte, und verleumdete geschätze Kollegen wie Strawinsky. Er unterwarf sich der Macht, da er sich nicht zum Märtyrer eignete. Das konnten und wollten seine selbstgerechten Kritiker:innen im Ausland nicht verstehen, die in Sicherheit lebten und ihr eigenes Leben nicht in Gefahr bringen mussten.
3 Im Jahr 1960 sitzt Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch in seinem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen. Zu diesem Zeitpunkt gilt er als bedeutendster Komponist Sowjetrusslands. Er wurde mehrfach mit dem Stalinpreis und Leninorden sowie mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen bedacht. Das hindert die Macht nicht daran, ihm einen Tutor zur Seite zu stellen, um ihn ideologisch zu schulen und sein Verständnis für den Marxismus-Leninismus zu stärken. Genosse Chruschtschow wünscht sich, dass er Vorsitzender des Komponistenverbandes wird und in die Partei eintritt. Während all der Jahre des Terrors war Schostakowitsch nicht beigetreten, obwohl es ihm das Leben erleichert hätte. Er wollte sich keiner Organisation anschließen, die Menschen tötet. Und wird nun dennoch Mitglied der KPdSU. Er hat aufgegeben und sich selbst verraten.
Im Jahr 2016 wird Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975) vom britischen Schriftsteller Julian Barnes in dessen Buch The Noise of Time portraitiert. Im Folgejahr erscheint der biographische Roman in der Übersetzung von Gertraude Krueger unter dem Titel Der Lärm der Zeit im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Dieses Buch lässt den Verfasser dieser Zeilen mit gemischten Gefühlen zurück.
Als Parabel der Macht weiß Der Lärm der Zeit über weite Strecken zu überzeugen. Mit feiner Ironie, die nie das Gleichgewicht verliert, gelingt es Barnes, das Leben in der Diktatur, die Angst vor Terror und Verfolgung und die Mechanismen totaler Herrschaft einzufangen. Sein Roman ist unterhaltsam, informativ und hervorragend konstruiert: Geschickt wählt der Autor drei Wendepunkte im Leben Schostakowitschs, an denen er den Komponisten über Vergangenes und Zukünftiges reflektieren lässt. Diese drei Orte sind gleichsam Nicht-Orte, Stationen der Ambivalenz und Bewegung: ein Fahrstuhl, in dem zu jeder Zeit ein KGB-Mitarbeiter auftauchen könnte, ein Flugzeug über dem Atlantik, das der Protagonist trotz großer Flugangst besteigt, und ein Auto, das nicht der Marke entspricht, die er sich eigentlich wünscht.
Julian Barnes begeistert sich für Schostakowitsch als politischen Fall, doch lässt er erstaunlich wenig Interesse am künstlerischen Schaffen seines Protagonisten erkennen. Die Werke Schostakowitschs, die sich häufig mit politischen, gesellschaftlichen und historischen Problemen und Ereignissen auseinandersetzen, spielen im Buch indes kaum eine Rolle. Der Lärm der Zeit ist ein fein arrangierter Roman, doch für die Opern, Symphonien oder Streichquartette des Komponisten findet er keine Worte. Stattdessen bedient Barnes überholte Genie-Klischees, die der psychologischen Schärfe seiner Hauptfigur nicht zuträglich sind: Bei der Arbeit weiß Schostakowitsch genau, was zu tun ist, trifft instiktiv die richtigen Entscheidungen und schafft Großes. Außerhalb der Musik aber weiß er nicht, was er will, und kommt im Leben nicht zurecht. Charakterisiert wird er vor allem als ein feiger und eitler Neurotiker, dessen Zwänge und Ticks penibel beschrieben werden. Doch nahe kommt man der Figur auf diese Weise nicht.