Ivo Andrić: Insomnia. Nachtgedanken

Von 21.01. 2021 Bücher

„Nacht. Das trübe Licht einer Laterne. Wie Funken ziehen Schneeflocken vorbei, selten und winzig von der Heftigkeit der großen Kälte. Es ist kalt, aber ich rühre mich nicht vom Fleck.“

Ivo AndrićInsomnia. Nachtgedanken

Mir scheint, die Glocke hätte zwei geschlagen. Das hat sie doch? Der Kirchturm liegt nur wenige Straßenzüge entfernt, doch der Schnee dämpft die Laute. Vor einer ganzen Weile hat es wieder zu schneien begonnen und die Nacht ist erleuchtet. Kein Auto unterwegs. Gegenüber – im dritten Stock – brennt noch Licht. Das bläuliche Flimmern verweist auf ein Fernsehgerät.

Ich kann meine Armbanduhr nicht finden. Ich suche auch nicht danach. Es ist spät, das reicht. Der Bleistift fährt über das Papier, ich sitze am längeren Hebel. Vor mir ein Zeichenblock, daneben Rotwein vom Discounter, ein Glas Wasser (das ich nicht anrühre) und ein überfüllter Aschenbecher. Darin zwei unterschiedliche Zigaretten-Marken, denn ein Freund war zu Besuch. Wir haben uns lange unterhalten und dabei kitschigen Italo-Schlager gehört (wie immer). Bei der Verabschiedung hat er mir ein Buch gegeben: Du neigst zu Schlaflosigkeit, nicht?

Nun komplettiert Insomnia. Nachtgedanken (Zsolnay Verlag, 2020) von Ivo Andrić das Stillleben auf meinem Tisch. Das Zimmer verhangen und die Luft stickig. Vor dem Fenster ein weißes Rauschen, das meine Lektüre begleitet. Kurz denke ich an das Rütteln der Mülltonnen, das in der Früh (zu früh) meinem Schlaf ein Ende bereiten wird. „Die Schwierigkeit besteht nicht darin, wie man einschläft, sondern wie man aufwacht. Das wissen viele von uns. Selten sind die glücklichen Nächte, in denen man fünf Stunden läng schläft, ohne Unterbrechungen und Erwachen“, schreibt Andrić. Der Eintrag, wie die meisten, undatiert.

Insomnia versammelt Aphorismen, literarische Miniaturen und Porträts, Traumsequenzen und autobiographische Betrachtungen. Die Einträge sind lose miteinander verbunden; einige Kapitel lassen übergeordnete Themen erkennen. Die Schlaflosigkeit, die der Band im Titel führt, ist nur eines davon. Denn die Nachtgedanken des jugoslawischen Nobelpreisträgers Ivo Andrić (1892-1975) kreisen ebenso um das Leben und Schreiben, um Schuld und Scham, Angst und Verlust sowie um das Altern und den Tod. Die Aufzeichnungen stehen im Zeichen des Saturn, sind melancholisch-düster und nicht gänzlich frei von Pathos. Es ist ein Buch für die dunkle Jahreszeit, denke ich, erblicke mein Spiegelbild in der Fensterscheibe und proste mir mit meinem Weinglas zu.

„In diesen Stunden herrschen die Gesetze der Nacht und die Maßstäbe der Dunkelheit, vor denen niemand unschuldig oder gerecht ist, niemand rein, friedlich und besonnen sein kann, nichts gut oder ungefährlich ist.“

Ivo AndrićInsomnia. Nachtgedanken

Das Nachwort von Michael Martens – der das Buch auch übersetzt und herausgegeben hat – informiert über die Entstehung und Edition des Bandes, der mit den Erzählungen und Romanen des bekannten Autors nur wenig gemein hat. Denn Andrić zeigt sich in seinen Aufzeichnungen sehr viel persönlicher und verletzlicher als in seinen fiktionalen Werken. Da er Zeit seines Lebens selbst gegenüber engen Freunden verschlossen blieb, hätte er der Veröffentlichung einiger dieser Texte sehr wahrscheinlich nicht zugestimmt, schreibt Martens.

Erschienen ist eine Auswahl seiner Notizbücher aus den Jahren 1915-1974 jedoch schon 1976, nur ein Jahr nach seinem Tod. Teile der Edition hat Ivo Andrić noch selbst redigiert – vervollständigt wurde das Buch Znakovi pored puta (dt. Wegzeichen) indes von seinen Nachlassverwaltern. Der Band war in Jugoslawien ein großer Erfolg, wurde aber nie zur Gänze ins Deutsche übersetzt. Ein erster deutschsprachiger Auswahlband erschien bereits 1980 im Hanser Verlag, nun folgt mit Insomnia. Nachtgedanken ein weiterer Ausschnitt aus den Wegzeichen. Das Buch umfasst rund 220 der insgesamt 1500 Einträge der serbokroatischen Originalausgabe.

Das sind Zahlen und Details, doch draußen geht der Wind. Auch im dritten Stock gegenüber sind die Lichter nun erloschen. Andrić schreibt von der Stille und Einsamkeit, von der Sehnsucht nach anderen Menschen, von der Trauer um seine verstorbene Frau. Intime Aufzeichnungen, die die Schwelle zur Indiskretion jedoch zu keinem Zeitpunkt übertreten. Das Spiel mit literarischen Formen, der stete Wechsel von Fakt und Fiktion, ironische Brüche, die zuweilen ins Absurde gleiten: Techniken des Überlebens.

Eine letzte Zigarette. Mein Weinglas ist halbvoll und die Leselampe blendet. Mir scheint, die Glocke hätte zwei geschlagen. Ich weiß es nicht. Ich bin schon längst eingeschlafen.

„Es ist mir nie gelungen, die Freude einzuholen und zu erreichen, aber ich bin mein ganzes Leben hinter ihr hergestolpert.“

Ivo AndrićInsomnia. Nachtgedanken

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