”„April ist der übelste Monat von allen, treibt / Flieder aus der toten Erde, mischt / Erinnerung mit Lust, schreckt / Spröde Wurzeln auf mit Frühlingsregen.“
T. S. EliotDas wüste Land
In einem Punkt aber hatte sich T. S. Eliot geirrt, dachte Konstantin. Zwar mochte das Gedicht The Waste Land aus dem Jahr 1922 zu den bedeutendsten Werken des 20. Jahrhunderts gehören, doch war dem amerikanisch-britischen Lyriker bereits in der ersten Zeile ein gravierender Fehler unterlaufen: Nicht der April war der grausamste Monat von allen, sondern der August, befand Konstantin, als ihn der unerträgliche Schweißgeruch im Zimmer aus dem Bett trieb. Vom Fenster aus konnte er die Anhöhe erblicken, die kürzlich noch in Flammen stand. Zum dritten Mal in zehn Jahren, von Brandstiftern keine Spur. Eine Feuerpredigt, ihrer Funktion enthoben. Zurück blieb nur das wüste Land, so öde und verflucht wie seine gescheiterte Ehe.
Konstantin befand sich in einer Situation, die wir gemeinhin Lebens- oder Sinnkrise nennen. Mit Abscheu blickte er auf die Welt, das Gesetz des Vaters, die Ordnung der Dinge. Alles widerte ihn an – Durst hatte er trotzdem. Während er in der Küche Wasser aufsetzte, musste er wieder an seinen toten Schriftstellerkollegen denken. Vielleicht war es dem Schlafmangel geschuldet, dass er ihm den Trugschluss nicht übelnehmen konnte. Nein, er schlief seit Jahren schlecht. Seine ungewohnte Nachsicht ließ sich vielmehr darauf zurückführen, dass Eliot in anderen Zeiten lebte und in anderen Parametern dachte. Zudem hatte er sein bekanntes Gedicht in London verfasst, nicht im montenegrinischen Küstenort Ulcinj, nahe der Grenze zu Albanien. Somit wusste er nichts von der Invasion der Barbaren, die die ruhige Stadt an der Adria in einen vulgären Vergnügungspark verwandelte. Und das in jedem verschissenen Sommer…
”„Der Gedanke an [Thomas] Bernhard tröstet mich immer, denn angesichts eines Unglücks, welches das unsere in allem übersteigt, müssen wir Trost verspüren.“
Andrej NikolaidisDer Sohn
Der radikal düstere Roman Der Sohn (Voland & Quist, 2015) des montenegrinisch-griechischen Autos Andrej Nikolaidis – dessen Originalversion bereits im Jahr 2006 erschien und mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde – ist reich an Referenzen und intertextuellen Verweisen: Thomas Bernhard und Jean-Paul Sartre spielen darin ebenso eine Rolle wie Indie-Popsongs der jüngeren Musikgeschichte, etwa von Sonic Youth, Band of Horses oder Interpol (am Ende des Buches werden 13 Titel angeführt; ein Soundtrack). Doch Eliot, dessen wüstes Land sich aus ganz unterschiedlichen poetischen und religiösen Quellen speist und früh im Text auftaucht, bleibt der größte Bezugspunkt. Wohl auch deshalb, weil sein wirkungsmächtiges Langgedicht ursprünglich als die Schilderung einer langen Kneipentour geplant war.
Nun irrt Konstantin – Protagonist und Ich-Erzähler des von Margit Jugo übersetzen Romans – in dieser Nacht, in diesem Nachtstück, nicht unbedingt von Lokal zu Lokal. Doch ist der Whiskey sein ständiger Begleiter. Sein Alkoholpegel verhält sich proportional zur Absurdität seiner Begegnungen: Er trifft an diesem Abend auf Ðuro, den Dreckigen, der seine Töchter prostituiert, die er zu Discount-Preisen anbietet. Er begegnet seinem ehemaligen Mitschüler Uroš, der in der Schule misshandelt wurde und später im Bosnienkrieg kämpfte. Er stößt auf den missionarischen Muslim Samir, der ihn erfolglos vom Trinken abhält, und entflieht einer bettelnden, leprakranken Flüchtlingsfamilie in einer Tiefgarage.
Während die Stadt – und mit ihr die ganze Welt – Zeugnis ablegt von ihrer eigenen Abscheulichkeit, reflektiert Konstantin über Verbrechen und Strafe, über Schuld und Vergebung. Jeden Glauben, jede Ideologie und jede Hoffnung hat er zu diesem Zeitpunkt längst aufgegeben. Doch wir trauen ihm nicht.