Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Von 14.09. 2020 Bücher

Sapindaceae. Familie der Seifenbaumgewächse. Pflanzengattung: Ahorne. Deren Blätter (drei bis fünf Blättchen) meist handförmig gelappt. Auch die Nervatur: handförmig.

Es mag bloßer Zufall sein, dass es vier Ahornblätter sind, die das Cover des Romans Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta Verlag, 2020) von Iris Wolff zieren. Eine rein ästhetische Entscheidung, da der Ahorn in dieser multiperspektivisch erzählten Familiengeschichte aus dem rumänischen Banat so gut wie keine Rolle spielt. Doch die fein gearbeitete Prosa Wolffs lässt keine Zufälle erkennen. Ein jedes Bild und Motiv ist bedacht gewählt und bewusst platziert. Augenfällig ist in diesem Zusammenhang der souveräne Gebrauch der Elemente Wind und Wasser – Witterung, Lüfte, Meere und Flüsse konstituieren die innere und äußere Geographie dieses Generationenromans

Verschwiegener, weniger offensichtlich, für die Figurenzeichnung und -konstellation aber umso relevanter, ist hingegen ein ganz anderes Motiv, das uns zur Struktur des Ahornblatts zurückführt: Hände. Im Buch geben sie Aufschluss über das verzweigte Familiengefüge, bezeugen Nähe und Vertrauen, offenbaren Abneigung und Skrupel, verdeutlichen Unausgesprochenes oder verweisen auf die Zukunft. Anstelle einer Inhaltsangabe soll nun kurz entlang zentraler Beispiele veranschaulicht werden, auf welche Weise Die Unschärfe der Welt Hände einsetzt, um Stimmungen und Beziehungen auszuloten.

„Mit einem Mal sah Liv vor sich, wie Florentine Wäsche zusammenlegte. Sie faltete die Kleidung, strich sie mit den Handflächen glatt, legte Kante auf Kante, und in dieser Geste war alles enthalten, Wertschätzung für das, was den Körper verhüllte, und der Wunsch, der Stoff zu sein, der die Haut derer berührte, die man liebte.“

Iris WolffDie Unschärfe der Welt

Der Roman setzt ein mit der Sorge einer werdenden Mutter vor einer Fehlgeburt. Auf dem Weg aus dem Spital zurück in ihr abgelegenes Dorf legt sie schützend die Hände auf ihren Bauch, flach, die Finger gespreizt, und erspürt dabei die Umrisse des Kindes. Es wird überleben. Nicht nur stellen die Hände eine Verbindung her zwischen Mutter und Kind/Ungeborenem, sondern auch zwischen den Lebenden und Toten. Als eine andere Frau im Ort durch einen versuchten Schwangerschaftsabbruch stirbt, versteckt sich ihr Sohn im Sterbezimmer und legt seine Hände instinktiv auf den Unterleib seiner Mutter, so wie sie es immer bei ihm gemacht hatte, wenn ihm der Bauch weh tat.

Zwei angehende Lehrer aus der DDR fahren per Autostopp zum Schwarzen Meer. Nur einer der beiden Männer ist von Interesse. Auffällig sind neben seinen leutseligen Grübchen vor allem seine schönen Hände, mit langen, schmalen Fingern, die routiniert Zwiebeln und Knoblauch schneiden, Petersilienwurzeln und Sellerie stückeln. Seine Fürsorge und seine Bedeutung für die Familie ist in seinen Händen angelegt. Der Durchreisende wird Jahrzehnte später Teil der deutsch-rumänischen Pfarrersfamilie, die ihm und seinem Freund Unterkunft gewährt. Diese Gastfreundschaft von einem Securitate-Mitarbeiter der Dorfgemeinschaft gemeldet. Beim Polizeiverhör ruhen die Hände des angeklagten Pfarrers auf einer Tischplatte, kreisrundes Licht, Handflächen nach unten. Vom Verdacht des Landesverrats wird er sich nicht befreien können. Seine Hände im Lichtkegel so eingeschlossen wie er selbst.

Letztlich gelingt zwei Mitgliedern der engeren und erweiterten Familie die Republikflucht aus dem Ceaușescu-Regime in einem Agrarflugzeug. Die Flucht über die Grenze wird im Geheimen vorbereitet, Abschiedsbriefe werden hinterlassen. Was danach passiert, wird im Roman nicht auserzählt, da man es an zwei Händen abzählen kann (Papiere in Österreich, Fluchtgeschichte in der Zeitung). Die Familie lebt fortan getrennt, Urlaube und Beerdigungen führen sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder zusammen. Beim Begräbnis der Urgroßmutter – einer Monarchistin, die von der Hand Königs Michaels in ihrer eigenen Hand träumte – werden schließlich Hände dargeboten, die um Einverständnis und Vergebung bitten. Wortlos, da es die Sprache ob ihrer Unschärfe nicht vermag. Die Nervatur dieses Romans: handförmig.

Postskriptum

Kurz vor Abschluss dieses Beitrags habe ich in Erfahrung gebracht, dass es sich mitnichten um Ahornblätter handelt, die das Buchcover der Unschärfe der Welt schmücken. Es sind die Blätter einer Weinrebe! Sie verweisen auf die vier Generationen, von denen der Roman erzählt und stehen für die Lebenszweige, die sich vom Pfarrgarten aus entspinnen. Der neue Kenntnisstand ändert freilich nichts an meiner Lesart des Romans, weshalb ich den Text auch nicht geändert/angeglichen habe. Die an mich getragene Information offenbart jedoch, dass ich von Pflanzenkunde nun wirklich gar keine Ahnung habe. Sei’s drum.

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