Dieser Text beginnt in Leipzig. Im Sommer 2004. Die ersten zwei Semester meines Studiums hatte ich irgendwie über die Runden gebracht. Der Umzug nach Berlin war schon beschlossene Sache. Vielleicht hat mir Leipzig gerade deshalb so gut gefallen. In diesen letzen Wochen. Erst spät ist mir klargeworden, dass ich enge Freunde gefunden hatte. Die verbleibende Zeit musste genutzt werden. Während wir mit unseren klapprigen Rädern an den Cospudener See oder in den Clara-Zetkin-Park fuhren, dröhnte aus den Radios Dragostea din tei der moldawischen Boygroup O-Zone. Fremdscham hat etwas Befreiendes. Und es ging uns gut. Wenn wir uns nicht auf öden, nachträglich aber schrecklich aufregenden WG-Partys in Connewitz herumtrieben, dann lasen wir französische Theorie. Die wir nicht verstanden und bis heute nicht verstehen. Doch die Merve- und Suhrkamp-Bände machten sich gut in Regal und Jute-Beutel.
Ging es um schöngeistige Literatur, so lasen wir in jenem Sommer fremdbestimmt: Unsere Lektüre-Wahl wurde uns von der Süddeutschen Zeitung abgenommen, die damals eine kostengünstige Buchreihe auf den Markt warf. Sie versprach uns „50 große Romane des 20. Jahrhunderts“, die man fortan an jeder Straßenecke sah. Ein Zugehörigkeitsdilemma. Dem ich erlegen bin. Vor meinem Fester in der Bornaischen Straße rumpelte die Tram, ich lag auf meinem Sofa und las Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – Band 1 besagter Klassiker-Bibliothek. Das ist jetzt sechzehn Jahre her. An viele Momente und Begegnungen meiner letzten Wochen in Leipzig kann ich mich gut erinnern. Kunderas Roman gehört nicht dazu. Allem Anschein nach ging es darin um eine Liebesbeziehung. Die Zerschlagung des Prager Frühlings spielte wohl auch eine Rolle. Alles andere hatte ich jedoch vergessen. Das Buch ging irgendwann absichtlich verloren.
Vor einigen Monaten aber entdeckte ich beim Stöbern in einem Wiener Antiquariat eine gut erhaltene Hanser-Ausgabe des Romans. Sie liegt nun beim Schreiben neben mir. Laut Widmung wurde mein Buch im Januar 1986 verschenkt. Hatten sich Christine und Hannes Gedanken über den Literaturgeschmack des Geburtstagskindes gemacht oder griffen sie unbedarft zu einem Bestseller? Vielleicht erschien ihnen das Cover ansprechend, das die Coquetterie von Francis Picabia zeigt und damit auf ein Thema des Romans verweist. Doch das konnten Christine und Hannes beim Kauf unmöglich wissen. Oder unterschätze ich die beiden Schenkenden? Ich kenne nur ihre Namen, mehr nicht. In einem Anflug von Nostalgie – die offenkundig auch diesen Text bestimmt – entschied ich mich, das Buch erneut zu lesen.
Auch vor meiner ersten Lektüre war ich nicht völlig unbefangen. Die Marketing-Abteilung der Süddeutschen Zeitung hatte mir erfolgreich vermittelt, dass Großes zu erwarten sei. Positive Vorurteile. Und so war ich darauf eingestellt, ein bedeutendes Werk der europäischen Literatur kennenzulernen. Dass ich mich nicht mehr an diese Bekanntschaft erinnern kann, will nichts heißen. Es ist ein wiederkehrendes Phänomen. Die zweite Lektüre der Unerträglichen Leichtigkeit fand unter anderen Voraussetzungen statt. Mir waren nun einige Hintergründe bekannt, die meine Aufmerksamkeit beim Lesen in eine bestimmte Richtung lenkten.
Aufgrund seiner Kritik am politischen System der ČSSR und seiner Unterstützung der Dubčekschen Reformbewegung wurden die Arbeiten Milan Kunderas ab den späten 1960er Jahren nicht mehr in seiner Heimat verlegt. Auch seine Lehrtätigkeit musste er im Gefolge der politischen Umwälzungen aufgeben. Im Jahr 1975 erhielt er jedoch die Möglichkeit, zu emigrieren und als Universitätsdozent in Frankreich zu arbeiten, wo er bis heute lebt. Hier entstand in den frühen 1980er Jahren sein bekanntester Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, der freilich nicht in der Tschechoslowakei erscheinen konnte und auch in weiteren osteuropäischen Ländern auf dem Index stand. Im Jahr 1984 wurde zunächst die französische Übersetzung publiziert, das tschechische Original erschien im Folgejahr in einem kanadischen Exil-Verlag. Erst 2006 konnte der Roman auch in Tschechien veröffentlicht werden. Kundera hatte sich lange Zeit dagegen verwehrt.
Und so verschob sich mein Erwartungshorizont. Denn offenkundig hatte ich es hier mit einem brisanten Text zu tun, der auch in meinem eigenen Geburtsland – der DDR – verboten war. Doch würde ich die politische Sprengkraft des Romans aus einer heutigen Perspektive überhaupt erkennen können? Neben diese gesellte sich eine zweite Frage, die sich wohl jeder Klassiker mit Kultstatus gefallen lassen muss: Wird das Buch seinem Ruf gerecht? Milan Kundera ist nicht unumstritten. Den einen gilt er als bedeutender europäischer Romancier und Nobelpreis-Aspirant, andere bewerten seine Werke als sentimentalen Kitsch. Nach der Lektüre würde ich beiden Positionen etwas abgewinnen können.
Klotzen statt Kleckern. Schon auf den ersten Seiten wird ersichtlich, dass Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins sehr viel mehr sein möchte als eine bloße Liebesgeschichte zur Zeit des Kalten Krieges. Ausgehend von Friedrich Nietzsches Idee der „ewigen Wiederkehr“ widmet sich der Roman den grundlegenden Fragen der Conditio humana. Verhandelt werden das Gewicht der Welt, die Freiheit des Individuums, Verantwortung in der Diktatur, Wahrheit und Lüge, das Verhältnis der Geschlechter, Freundschaft, Liebe und sexuelles Begehren. Das Buch ist in dieser Hinsicht völlig überfrachtet. Jedes noch so kleine Detail verweist auf einen größeren Zusammenhang. Zahlreiche philosophische und philosophisch anmutende Reflexionen durchwandern Kunderas Text. Und auch wenn sich einige dieser Exkurse durch geistige Klarheit und Lebendigkeit auszeichnen, so gleichen (zu) viele davon doch oberlehrerhaften Plattitüden. Dieser Ton setzt sich in den politischen Passagen des Romans fort.
”„Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im wesentlichen unannehmbar ist.“
Milan KunderaDie unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Kitsch kennt viele Facetten. Eine allumfassende Definition des Begriffs wird sich nicht finden lassen. Und so kann man dem Roman auch nicht vorwerfen, sich dem Phänomen vornehmlich aus einer ästhetischen Perspektive zu nähern. Sabina – die interessanteste Nebenfigur des Buches – ist Malerin und begehrt schon während ihres Studiums gegen das Diktat des sozialistischen Realismus auf. Im Kommunismus erblickt sie eine Art Vaterfigur: genauso streng und beschränkt, die Liebe und Picasso verbietend. Aus Sabina spricht der Autor selbst, dem unbedingt daran gelegen ist, das „wesentlich Unannehmbare“ in seiner Kunst zu verhandeln. Anstelle ein „kategorisches Einverständnis mit dem Sein“ zu formulieren, ist die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins eine klare Abrechnung mit dem Kommunismus und den politischen Verhältnissen in der ČSSR – dem Land, das dem Schriftsteller Ende der 1970er Jahre die Staatsbürgerschaft entzog. Erst seit 2019 besitzt Milan Kundera neben der französischen auch wieder die tschechische Staatsbürgerschaft.
Die politische Brisanz des Romans zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wird auch heutigen Leser*innen nicht verborgen bleiben. Und womöglich liegt gerade darin das Problem. Denn das Buch lässt keine Fragen offen. Im Kampf gegen Ideologie und Staatspropaganda entwirft es eine Gegengeschichte, die ohne Widersprüche und Ambivalenzen auskommt und sein Publikum fortwährend unterschätzt. Damit sei keineswegs behauptet, dass die geschilderten politischen Vorgänge und Verhältnisse falsch wiedergegeben wären – doch es stören die Eindeutigkeit und der moralisierende Ton. Der Roman ist in einem ermüdenden Maße politisch korrekt.
Kitsch zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass er keine Auslegung und Interpretation zulässt. Und genau das ist hier der Fall. Wer sich bisher kaum mit dem Prager Frühling auseinandergesetzt hat, dem bietet das Buch nichtsdestotrotz eine gute Einführung in das Thema. Denn aufgegriffen werden nicht nur die Liberalisierung und Demokratisierung der Tschechoslowakei unter Alexander Dubček, sondern auch die katastrophalen Nachwirkungen der verhinderten Reformbemühungen. Geschildert werden die Folgen des sowjetischen Einmarschs im August 1968 nicht zuletzt anhand der zwei Hauptpersonen des Romans.
Bei allem philosophischen und politischen Ballast gerät fast in Vergessenheit, dass es sich bei der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins im Kern um eine Liebesgeschichte handelt. Und auf dieser Ebene weiß das Buch dann doch zu überzeugen. Dies liegt einerseits an den vielschichtigen und greifbaren Charakteren, andererseits am eleganten Stil und der geschickten formalen Anlage des Romans. Bereits im ersten Teil Das Leichte und das Schwere wird auf knapp 30 Seiten die Rahmenhandlung der glücklich-unglücklichen Liebe zwischen der Serviererin Teresa und dem Chirurgen Tomas erzählt. Die Handlung wird in den folgenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen und ergänzt: um weitere Gedankengänge, Perspektiven, Figuren und Nebenschauplätze. Und während sich die Geschichte gewissermaßen im Kreis dreht, entwickelt sich ein Strudel, der eine außerordentliche Sogwirkung hervorruft.
Wie jede große Liebe in der Geschichte der Literatur ist auch diejenige zwischen Teresa und Thomas nicht arm an Konflikten. Nachdem sich die beiden durch einen Zufall in einer böhmischen Kleinstadt kennenlernt haben, zieht sie schon bald zu ihm nach Prag. Er, Einzelgänger und Erotomane, lässt sich auf diesen Zufall ein. Für ihn steht sein polygames Leben in keinem Widerspruch zu seiner Liebe zu Teresa. Doch sie kann mit der Eifersucht nicht leben. Nach der Invasion der Truppen des Warschauer Pakts emigrieren die beiden gemeinsam in die Schweiz, kehren aber nach kurzer Zeit wieder in die ČSSR zurück. Durch ihr politisches Engagement während des Prager Frühlings werden nun die Behörden auf sie aufmerksam und setzen sie zunehmend unter Druck. Vorladungen, Verhöre und Beschuldigungen. Am Ende leben sie in einem kleinen Ort in der Provinz und kommen durch einen Unfall ums Leben. Die genauen Umstände dieses Unfalls aber bleiben in der Schwebe. Wir wissen zu viel und wir wissen zu wenig. Und in diesem Punkt schafft der Roman genau das, was ihm in anderen Belangen nicht gelingen will. Wird das Buch also seinem Ruf gerecht? Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Ja, doch, und nein. Vielleicht.
Ahoi –
danke für die Rezension. Gefällt mir gut, hilft bei der Entscheidung: Lesen oder nicht.
Allerdings bei „das Diktat des realistischen Sozialismus“ bin ich nicht ganz sicher, ob das Absicht war oder es nicht doch „Sozialistischer Realismus“ heißen sollte.
Aber ja, da habe ich mich natürlich vertan! Das ändere ich doch gleich mal.Lieben Dank für den Hinweis!
Auf den Literaturpalast bin ich über den Autorenwelt-Newsletter gestoßen, und nachdem ich in einigen deiner Rezensionen geschmökert habe, werde ich gerne öfter vorbeischauen. In der Kundera-Rezension gefällt mir sehr gut, wie du einen jahrzehntealten Klassiker lebendig machst, indem du ihn in eigene Erinnerungen einbettest. Ebenso erfrischend finde ich deine Ehrlichkeit, dass beim ersten Lesen eben nicht so viel hängengeblieben ist, obwohl man doch so gerne teil an dem ,,Großen“ hätte, das die Kritiker der Süddeutschen in diesen Romanen angeblich finden. Differenziert dann dein abschließendes Urteil: Auf der Meta-Ebene überfrachtet, zugleich aber eine starke Liebesgeschichte. Nachdem ich bisher über Kundera eben nur ein paar Punkte aus der ,,Kitsch-Ecke“ gehört habe, hat mir deine Rezension Lust gemacht, mir ein eigenes Urteil zu bilden. Und nicht zuletzt inspiriert sie mich für eigene Rezensionen, die ich auf meinem Blog veröffentliche. Danke dafür!
Ganz lieben Dank! Es gibt einen schönen Text von Patrick Süßkind, in dem er von den vielen Klassikern in seinem Bücherregal spricht, die er zwar zum größten Teil gelesen hat – an deren Lektüre er sich aber kaum noch erinnert. Ich vergesse leider auch sehr schnell – oft bleiben nur noch mein Urteil oder einzelne Szenen oder Figuren hängen. Was Kundera betrifft, höre ich immer wieder, dass „Der Scherz“ sein bester Roman sei. Den werde ich mir sicher auch noch vornehmen – aber das wird wohl noch dauern.