Ivana Sajko: Familienroman

Von 23.05. 2020 Bücher

„Die Zeit stand und stand und stand, und dann brach ein Klumpen davon ab und stürzte auf den Parkplatz. Deshalb weiß sie auch nicht, welcher Tag heute ist … Sie weiß auch nicht mehr, welches Jahr wir schreiben … Doch sie kann vermuten, dass dieser Brocken etwas Schlimmes mit ihrem Gesicht angerichtet hat.“

Ivana SajkoFamilienroman

Da hinten auf dem Parkplatz hat sich mittlerweile einiges angesammelt. Auf dem kalten Asphalt liegt nicht nur ein Klumpen Zeit, der langsam Schimmel ansetzt (zuletzt hat es oft geregnet). Dort finden sich auch Begriffe wie die Postmoderne oder Hélène Cixousʼ Konzept einer écriture féminine. Einfach weggeworfen. Die kann wohl niemand mehr gebrauchen? Womöglich sind die Angebote im Lidl nebenan verlockender: täglich frisch und hübsch verpackt, nicht einmal kauen muss man, einfach nur schlucken. Und tänzelt der Schmerbauch mal aus dem Sichtfeld, lässt sich an der Supermarkt-Fassade Erstaunliches erblicken. Ganz klein und unaufgeregt prangt dort Klees Angelus Novus (der Sprayer gestern Abend hat sich Mühe gegeben). Nun glotzt der Engel der Geschichte also dämlich vor sich hin. Ohne irgendetwas zu behaupten. Die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko lächelt das medusenhaft weg.

Währenddessen rückt schon die Putzkolonne an und kehrt die Trümmer zusammen. Inmitten des vermeintlichen Unrats kommen immer mehr Dinge zum Vorschein – darunter auch die Erwartungshaltung des verehrten Publikums bezüglich eines Familienromans. Einfach über den Haufen geworfen. Kann dort aber auch getrost liegen bleiben (die Krähen werden sich drum kümmern). Damit kommen wir hier nicht weiter. Denn Ivana Sajkos Familienroman. Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus (Voland & Quist, 2020) bricht mit den Konventionen des Genres, das dem Buch seinen Titel verleiht. Einen ausladenden Schmachtfetzen möchte uns die Autorin nicht anbieten. Stattdessen erschafft sie – in der Übersetzung von Alida Bremer – auf nur wenigen Seiten ein schimmerndes Generationenporträt, das von Rissen und Furchen durchzogen ist. An vielen Stellen bröckelt die Farbe ab, so dass sich die namenlosen Gesichter kaum noch erkennen lassen. Wir werden dieses Bild selbst vervollständigen dürfen.

Für diese Aufgabe reicht uns die Erzählerin des Romans – die sich im letzten Drittel des Buches als eine Autorin namens Ivana Sajko zu erkennen gibt – eine Art Beipackzettel. Im ersten Kapitel vermerkt sie, dass ihr kurzer Bericht aus mindestens drei Geschichten bestehe. Dazu zählt sie einerseits diejenige ihrer eigenen Familie, andererseits diejenige der Stadt Zagreb. Die dritte Geschichte aber (in den anderen bereits angedeutet) skizziert das poetologisch-politische Prinzip des Romans: Persönlich und völlig subjektiv werde im Text eine Auswahl an Ereignissen, Protagonist*innen und Zeugnissen getroffen; Diskontinuitäten und Widersprüche den Allgemeinplätzen der kollektiven Erinnerung gegenübergestellt. Es gilt zu zeigen, „dass es unzählig viele Arten gibt, über Tatsachen zu sprechen. Keine einzige davon bildet die Wahrheit ab.“

Und so landen auch Deutungshoheit, Wahrheitsanspruch und Verbindlichkeit jedweder Form von Erzählung auf dem Trümmerhaufen. Der emsige Putztrupp (zu viele Rauchpausen, aber letztlich auch unterbesetzt) kommt gar nicht hinterher. Das gibt uns die Gelegenheit, die Postmoderne und die écriture féminine vor der Schrottpresse zu retten. So wir das möchten. Und vielleicht ist uns tatsächlich daran gelegen, da diese angestaubten Begriffe Sajkos Familienroman in ein anderes Licht rücken und literarische Verbindungslinien kenntlich machen, die sich als aufschlussreich erweisen könnten.

Das Konzept einer weiblichen Schrift oder Schreibweise wurde in der Vergangenheit hinlänglich diskutiert und auseinandergenommen. Es propagiere ein biologistisches Verständnis von Weiblichkeit und romantisiere den weiblichen Körper, so die Kritik. Gleichzeitig aber widersetzt sich das Konzept einer eindeutigen Definition und stellt die klassische Geschlechterdichotomie in Frage. Zudem ist diese Schreibpraxis, die das Andere oder Ausgeschlossene in den Blick nimmt, dezidiert nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden. Ganz gleich, wer sich dieser Schrift bedient: Ziel ist eine Subversion der symbolischen Ordnung und des elitären Diskurses. Als Charakteristika gelten die Auflösung von Gattungsgrenzen, die Unabgeschlossenheit des Textes, ein nichtlineares Erzählen, Dialogizität, syntagmatische und grammatikalische Brüche sowie die Betonung der Materialität der Sprache. Die meisten dieser Charakteristika – eng verbunden mit denjenigen der literarischen Postmoderne – können auch dem Familienroman zugesprochen werden.

Ivana Sajkos „historischer“ Roman ist ein poetischer Angriff auf die offizielle, heroische Geschichtsschreibung, die sich dem Diktat der Machthaber*innen unterwirft. Auch im Familienroman spielen Staatserzählungen und Nationalmythen eine tragende Rolle – darunter die Verkündung des faschistischen Unabhängigen Staates Kroatien im Jahr 1941, der Kampf der Partisan*innen, die Gründung der Volksrepublik Jugoslawien im Jahr 1945, die große Überschwemmung Zagrebs 1964 oder der Tod Titos im Jahr 1980. Doch diese staatstragenden Ereignisse werden bei Sajko ihrer Notwendigkeit und Chronologie enthoben und büßen damit ihren Status als in Stein gemeißelte Großerzählungen ein. Hervorgehoben wird stattdessen ihre Kontingenz und Unabgeschlossenheit, die durch den Gebrauch historischer Quellen nochmals untermauert wird. Zwar arbeitet der Roman mit Fußnoten und zitiert wissenschaftliche Monographien und Aufsätze, Zeitungsartikel, Broschüren, Reden, Filme und literarische Werke. Doch diese Zeugnisse bezeugen nichts. Sie verweisen nur immer wieder auf weitere Dokumente und schaffen so ein dichtes, (inter-)textuelles Gewebe.

Teil dieses poetischen Textgefüges sind neben den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Kroatiens auch die damit verknüpften persönlich-subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen, die über die Familie der Erzählerin vermittelt werden. In welcher Weise deren einzelne Mitglieder aber zueinander stehen, bleibt meist völlig offen. Die Personen sind schwer greifbar, fast niemand verfügt über einen eigenen Namen, Zeitsprünge bestimmen das Geschehen. Indem den Charakteren keine komplexe Figurenzeichnung zugestanden wird, erhalten ihre Wünsche, Hoffnungen, Unsicherheiten und Träume einen gewissen Grad an Allgemeingültigkeit – auch wenn diese Vorstellung im Kontext des Familienromans als zweifelhaft erscheint. Denn der Roman hinterfragt nicht nur die herrschaftsaffirmierende offizielle Geschichtsschreibung, sondern auch persönliche Erinnerungen und Erzählungen. Vor allem die gängigen Narrative des familiären Glücks – wie die Ehe oder die Geburt eines Kindes – werden dabei ihres ideologischen, klischeehaften Charakters überführt. Und das gibt dem Trümmerhaufen beim Supermarkt nun wirklich den Rest. Ein leichter Wind aus Süd-Ost genügt schon, um den Berg aus Klumpert, Tand und Restbeständen auf offenem Gelände zum Einsturz zu bringen. Der müde Putztrupp kann seinen Augen nicht glauben (blinzeln zwecklos) und verschwindet in einer dichten Staubwolke. Ivana Sajko lächelt das medusenhaft weg.

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