Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg.
Denn der Sieg wird kommen. Irgendwann. Aber wer weiß das schon. Die Mutter bringt die Söhne zur Großmutter. Über die Dörfer. Hier sind sie sicherer. Aber wer weiß das schon. Der Krieg ist überall. Der Krieg ist in den Menschen: Niedertracht, Verrohung und Grausamkeit. Das bedeutet es, Mensch zu sein. Ein ganzer Mensch werden in qualvollen Lektionen. Eine Notwendigkeit. Übungen zur Abhärtung des Geistes. Übungen zur Abhärtung des Körpers. Übungen, um den Schmerz zu besiegen, die Hitze, die Kälte, den Hunger, alles, was weh tut. Nächstenliebe als Abfallprodukt. Dann und wann fällt etwas ab. Nie aber von der Großmutter. Der Krieg als einziger Lehrmeister. Und die zwei Söhne – fragwürdiger Plural – sind wissbegierig. Sie spielen das Spiel, doch sie spielen nicht. Die Bildung, die sie bildet, sie bildet nicht. Vielleicht bildet sie ab. Aber wer weiß das schon.
”„Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt, es ist besser, man vermeidet sie und hält sich an die Beschreibung der Dinge, der Menschen und von sich selbst, das heißt an die getreue Beschreibung der Tatsachen.“
Ágota KristófDas große Heft
Literatur als Abfallprodukt. Die zwei Söhne – unsichere Erzählinstanzen – sind schreibbegierig, zeichnen alles auf, verschweigen nichts, vermeiden Unbestimmtheiten. Nur dann sind die Aufsätze gut. Gut genug sind die Aufsätze erst dann, wenn sie wahr sind, den Tatsachen getreu. Die Wahrheit ist dem Menschen kaum zumutbar. Hier wird die Wahrheit zur Notwendigkeit. Die Aufsätze der zwei Söhne – karg, roh und kalt – sind versammelt im großen Heft, versteckt in der Wohnung der Großmutter. Verborgen mit Hintergedanken. Aber wer weiß das schon.
Wir wissen: Das große Heft ist der erste Roman der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf. Das französischsprachige Original erschien 1986, die deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer bereits ein Jahr später im Rotbuch Verlag. Es ist ein grausames Buch, ein notwendiges Buch.
Postskriptum
Der erste Absatz, der den Ton des Textes bestimmt, ist ein Zitat. Dabei handelt es sich um eine Passage aus Peter Handkes dramatischem Gedicht Über die Dörfer aus dem Jahr 1981. Sie ist auch in die Nobelpreisrede des Schriftstellers eingeflossen.