Warum ist nicht alles schon verschwunden? lautet der Titel des letzten Textes von Jean Baudrillard (1929-2007). In diesem Essay widmet sich der französische Philosoph – sehr verkürzt gesprochen – dem spezifisch menschlichen Modus des Verschwindens, der alles andere als ein Naturgesetz, sondern vielmehr eine ausgefeilte Kunst sei. Weiter mit den Zitaten: Denn ein How to disappear completely scheint wie ein defekter Schriftzug aus Leuchtstoffröhren auch über den Prosaminiaturen von Yevgenia Belorusets zu flackern.
Doch nun ergibt sich folgendes Dilemma: Baudrillards Medientheorie ist ganz klar nicht der Ansatz, auf den sich Belorusets in ihrem Band Glückliche Fälle (Matthes & Seitz, 2019) bezieht. Stattdessen verweist die ukrainische Schriftstellerin und Photographin im sperrigen Vorwort ihres Buches dezidiert auf Walter Benjamin und seinen wohl bekanntesten Text Über den Begriff der Geschichte. In Ablehnung des historischen Narrativs der Herrschenden, das sich aus Beuteobjekten zusammensetze, möchte sie sich in ihren Arbeiten dem Unbedeutenden, Zufälligen und Überflüssigen widmen, da dieses (eher) davor gefeit sei, zum Diebesgut der Sieger zu werden.
”„Ich weiß nicht, was ein Morgen ist und wie es dazu kommt, dass der gestrige Tag in den heutigen übergeht. Der heutige Tag wird auch verschwinden. Irgendwann habe ich die Orientierung verloren, ich weiß nicht mehr, was ein Anfang ist.“
Yevgenia BelorusetsGlückliche Fälle
Die Prosaminiaturen des Bandes, die allesamt das Leben in der heutigen Ukraine verhandeln, lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen: wechselnde Orte, Protagonistinnen, Erzählinstanzen und stilistische Zugangsweisen. Verbindendes Element aber sind die verschiedenen Modi des Verschwindens, die in den Textfragmenten durchexerziert werden – dies zumeist am Beispiel weiblicher Figuren: Eine Verkäuferin verliert sich im Tunnelsystem der U-Bahn von Kiew, um ihre Ware feilzubieten, eine Floristin löst sich gewissermaßen inmitten ihrer Blumen auf und wird unsichtbar, eine Frau wird von Unbekannten entführt und ward nie mehr gesehen, Menschen verlassen das Donezbecken und werden zu Binnenflüchtlingen, andere ziehen in den Krieg und kehren nicht zurück, Arbeitsplätze gehen verloren, Landstriche verwaisen und sterben aus. Eine Typologie des Verschwindens, mitten in Europa.
Ergänzt werden die Texte in Glückliche Fälle durch Photographien der Autorin, die den Serien Der Krieg im Park (2017) und Und ich behaupte: Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen (2017) entnommen sind – Schwarzweiß-Aufnahmen, die Bauruinen, zerstörte Friedhöfe, Szenen aus dem Arbeitsleben und junge Verliebte zeigen.
Postskriptum
Das Buchphoto zu diesem Beitrag ist in Kooperation mit der in Wien lebenden Künstlerin Käthe Schönle entstanden. Nach einem Gespräch über Inhalt und Gestaltung des Buches haben wir uns gemeinsam dazu entschieden, das Buch in ihrem Atelier unter Verwendung ihres Bildes All so fragmented zu inszenieren bzw. neu zu arrangieren. Entscheidend waren dabei Farbgebung und Titel, vor allem aber das Interesse der Künstlerin, Figuren in ihren Bildern auf- und abtauchen zu lassen. Weitere Arbeiten von Käthe Schönle finden sich auf Instagram @k.schönle und auf ihrer Website: www.schoenle.org.