”„Reg dich, beweg dich, los, Bewegung, Unrast. Nur so kannst du ihm entkommen. Er, der die Welt beherrscht, hat keine Macht über die Bewegung und weiß, dass unser Körper in Bewegung heilig ist, nur dann kannst du ihm entgehen, wenn du dich bewegst. Er aber hat die Herrschaft über das, was unbeweglich und erstarrt ist, was reglos und kraftlos ist.“
Olga TokarczukUnrast
Ein Kopf ohne Welt – Kopflose Welt – Welt im Kopf. So lauten die Titel der drei Teile von Elias Canettis Die Blendung aus dem Jahr 1935. Der noch immer lesenswerte Roman war lange Zeit vergessen, fand dann aber über Umwege (England, Amerika und Frankreich) zurück in die deutschsprachige Literatur. Und auch Unrast (Kampa Verlag, 2019) von Olga Tokarczuk musste erst mit dem britischen Man Booker International Prize ausgezeichnet werden, um auch das europäische Festland von der Größe dieser polnischen Autorin zu überzeugen. Und wie groß sie ist! Gerade weil sich die Virtuosität ihrer Prosa selbst dann erschließt, wenn man die zahlreichen Verweise, Anspielungen und Referenzen, die sie in ihrem Buch aufmacht, nicht unbedingt zuordnen kann. Wenn doch, umso schöner. Und siehe da: Die ersten Kapitel ihres Romans tragen die Titel „Die Welt im Kopf“ und „Der Kopf in der Welt“.
Olga Tokarczuks Unrast, das auf Polnisch bereits im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, ist keine Genrebezeichnung vorangestellt. Und tatsächlich drängt sich während des Lesens die Frage auf, ob man es hier eigentlich mit einem Roman zu tun hat; besteht das Buch doch aus Erzählungen, Essays, Tagebuchaufzeichnungen und Reisenotizen. Doch muss das verbindende Element eines Romans immer die Handlung sein? Nicht unbedingt. Hier sind es Themen, Figuren und Motive: das Reisen und die Rastlosigkeit, die Vermessung der Welt und des menschlichen Körpers, Kartographie und Anatomie, die Entwurzelung und Fragmentierung des modernen Subjekts, ein Walfisch, die Farbe Rot, Verlust und Tod.
Ein durch und durch welthaltiges, Grenzen sprengendes und erweiterndes Buch – verfasst in einer klaren, präzisen, nie effekthascherischen Sprache, ins Deutsche übertragen von Esther Kinsky. Und wiewohl Olga Tokarczuk in ihrem Text zahlreiche poetologische Rettungsanker auswirft, die die Lektüre in die eine oder andere Richtung lenken, verliert man sich doch zwangsläufig in einem Strudel. Man sollte gewillt sein, sich auf diese Reise ohne Heimkehr einzulassen. Denn es lohnt sich. Say it loud / I’m lost and proud.
Postskriptum
Die Photos für diesen Beitrag sind in Kooperation mit dem in Wien lebenden italienisch-österreichischen Künstler Siggi Hofer entstanden. Als wir uns im Sommer 2019 in seinem Atelier über die visuelle Umsetzung beratschlagten, war vom Nobelpreis für die Autorin noch nichts zu erahnen. Wichtig war in diesem Moment nur, dass das Buchcover nicht auf die Bilder durfte (das war Siggi Hofer schlicht zu geschmacklos). Auf den entstandenen Aufnahmen zu sehen ist ein Objekt aus der Installation continent 2018. Das Objekt verweist in dieser Neuanordnung einerseits auf die vielen Flugzeuge und Flughäfen, die in Unrast eine bedeutende Rolle spielen und steht andererseits für eine Reise ohne Rückkehr. Weitere Arbeiten von Siggi Hofer finden sich auf Instagram @siggi.hofer und auf seiner Website: www.siggihofer.com.