Es kommen härtere Tage. Doch heißere Tage, die mag man sich nicht vorstellen. Bei Temperaturen von bis zu 37 Grad fanden vom 26. bis zum 30. Juni 2019 die mittlerweile 43. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt statt. Vierzehn Autorinnen und Autoren lasen in der Kärntnerischen Landeshauptstadt aus ihren Texten und stellten sich dem Urteil der Jury. Diese fächerte sich ob der hohen Temperaturen zwar unablässig frische Luft zu, doch wirklich hitzig wurden die Diskussionen nach den Lesungen nur selten. Vielleicht auch deshalb, weil es ein insgesamt eher starker Jahrgang war, der durch sehr unterschiedliche inhaltliche und erzählerische Zugänge von sich reden machte. Auffällig jedoch war die Abwesenheit politischer Texte. Hier bildete vor allem Ronya Othmanns reportagenhafte Erzählung Vierundsiebzig eine Ausnahme. Ihr Text, in dem sie sich mit dem Genozid an den Jesiden durch den IS auseinandersetzt, erhielt am Ende den Publikumspreis.
Der Beitrag mit der größten politischen Schlagkraft aber war außerhalb des eigentlichen Wettbewerbs zu vernehmen. Er kam vom österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz, der in diesem Jahr die Eröffnungsrede hielt. In seiner Klagenfurter Rede zur Literatur mit dem Titel Kayfabe und Literatur beschäftigte er sich mit dem Show-Wrestling, dessen zentrales Konzept der „Kayfabe“ er gekonnt auf die Literatur, den Literaturbetrieb, die Politik und unser Leben im Allgemeinen übertrug. Der Begriff bedeutet so viel wie „Wahrung der vierten Wand“. Er bezieht sich auf die Einhaltung einer vorgegebenen Dramaturgie, da Wrestler zu keiner Zeit aus ihrer Rolle fallen dürfen. So werden beispielsweise reale Freundschaften mit fiktiv verfeindeten Kollegen untersagt bzw. streng reglementiert.
Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, die Realität wird „scripted“. Eine Tendenz, die Setz auch in den Storylines der Rechtspopulisten beobachtet. Sie würden längst nicht mehr erkennen, von welchen Fiktionen sie sich leiten ließen. Dies aber, so die Hoffnung, würde über kurz oder lang zum Verschwinden dieser Gruppierungen führen: „Man sieht euch bereits an den Rändern flackern. Euer System ist ein geschlossenes, und wie alle geschlossenen Systeme erstickt es irgendwann an sich selbst.“ Auf die Rede von Setz und das Konzept der „Kayfabe“ wurde im Verlauf des Wettbewerbs immer wieder Bezug genommen. Einzelne Jury-Mitglieder kamen so oft darauf zu sprechen, dass sich Setz, der die Veranstaltung seit vielen Jahren munter auf Twitter kommentiert, zu einem ironischen Seitenhieb auf eben dieser Plattform hinreißen ließ:„Ich werde zu oft zitiert.“
Als Gewinnerin des mit 25.000 Euro dotierten Hauptpreises ging die in Salzburg lebende Birgit Birnbacher hervor, die von Stefan Gmünder zu der Veranstaltung eingeladen worden war. In ihrer feingliedrigen Erzählung Der Schrank beschäftigt sich die Autorin mit den prekären Arbeitsverhältnissen ihrer eigenen Generation. Die Erzählerin des Textes ist eine hochgebildete Frau Ende 30, die sich als „Neue Selbstständige“ von Job zu Job hangeln muss, ohne je eine sichere Anstellung zu erhalten. In der Laudatio wurde die Erzählung als „knisternd“ und „aufrührend“ gelobt.
Den Preis des Deutschlandfunks erhielt der im österreichischen Vöcklabruck geborene Leander Fischer, der sich in seinem meisterhaft erzählten Text Nymphenverzeichnis Nummer eins Goldkopf mit der Technik des Fliegenfischen auseinandersetzt. Eine humorvoll versponnene Erzählung von hoher Musikalität. Ebenso nach Österreich ging der Kelag-Preis. Er wurde der in der Nähe von Klagenfurt geborenen Julia Jost für ihren Text Unweit vom Schakaltal zugesprochen. Die Geschichte widmet sich der Geschichtsvergessenheit Österreichs und erinnert in einigen Momenten an die Arbeiten Josef Winklers, ohne dabei ins Epigonale abzudriften. „Eine virtuose Erzählung, die schrecklichen Spaß macht“, so die Jury.
3sat-Preisträger wurde schließlich der in Köln lebende Yannic Han Biao Federer, der in kenn ich nicht die Geschichte einer gescheiterten Liebe verhandelt und mit einer „Überpräsenz von Sätzen von einer Leere erzählt“, so Jury-Mitglied Insa Wilke. Zudem wurde der letzte Satz des Textes von der Jury als bester Schlusssatz des Wettbewerbs gerühmt: „Am Hafen scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt.“ Dies gilt jedoch nicht für diesen Wettbewerb, der auch in diesem Jahr die Vielfalt und Qualität der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unter Beweis stellte, obwohl ihm steter Regelmäßigkeit die Relevanz abgesprochen wird.
Eine gekürzte Version dieses Textes wurde im Juli 2019 im Online-Magazin des japanischen Goethe-Instituts veröffentlicht.
https://www.goethe.de/ins/jp/de/kul/mag/21610277.html?forceDesktop=1
Persönliches Postskriptum
In Vertretung durfte ich im Juni 2019 für 3Sat/ORF nach Klagenfurt reisen und von hier aus die offiziellen Social-Media-Kanäle des Wettbewerbs betreuen. Durch den Buzz, den die Veranstaltung gerade auf Twitter generiert, war dies eine sehr intensive, aber ebenso schöne Erfahrung. Es folgt nun eine skizzenhafte Auflistung meiner persönlichen Erlebnisse und Beobachtungen:
Der Wettbewerb mag im Fernsehen wie ein sinistres Tribunal erscheinen. In Klagenfurt selbst ist die Stimmung jedoch recht gelöst, familiär und angenehm. Ein bisschen wie eine Klassenfahrt. Nach den Lesungen geht es häufig an den nahgelegenen Wörthersee.
Zum Baden fehlte mir selbst leider die Zeit. Mein Arbeitstag hatte etwa zwölf Stunden. Aber gestresst ist so ein kleines Interview im Live-Fernsehen dann gar nicht mehr so schlimm. Bilde ich mir zumindest ein. Mein Gespräch mit der Moderatorin Zita Bereuter landete nicht in der 3sat-Mediathek, so dass ich es selbst gar nicht sehen konnte.
Doch viel wichtiger waren ohnehin die Lesungen. Ein Highlight war für mich ganz klar diejenige von Julia Jost. Ihr schöner Text in schönster Josef-Winkler-Manier wurde noch schöner, da im Moment der Lesung Josef Winkler vor mir saß. Schön! Und wer lief beim anschließenden Interview mit der Autorin durchs Bild? Natürlich…
An den Büchern Josef Winklers habe ich nichts zu bekritteln. Die gefallen mir ausgesprochen gut. Doch es lohnt sich immer, ein Werk auch mal kritisch zu besprechen. Besonders, wenn man auf einer Abendveranstaltung den dazugehörigen Autor trifft (dem irgendjemand von meiner Instagram-Rezension berichtet haben musste) und sich der gute Mann geschlagene zwanzig Minuten über die dreiste Fehleinschätzung seines Werkes beschwert. Namen werden hier natürlich nicht genannt. Aber ich glaube, wir haben uns am Ende dann doch ganz gut verstanden.