Victoria Lomaskos Die Unsichtbaren und die Zornigen ist ein großer Wurf. Ein ganz herausragendes Werk, von dem im deutschsprachigen Raum bei Erscheinen jedoch kaum Notiz genommen wurde. Dies mag einerseits der ungewöhnlichen Form des Bandes geschuldet sein, andererseits aber auch mit dem Publikationsort des Buches zusammenhängen. Denn Lomaskos graphische Reportagen aus den Jahren 2008 bis 2016 erschienen im Schweizer Diaphanes Verlag, der in erster Linie für sein Wissenschaftsprogramm bekannt ist. Hier ging die Arbeit der russischen Künstlerin und Aktivistin schlichtweg unter.
Ich selbst habe Lomasko nur über Umwege bzw. einen glücklichen Zufall kennengelernt. Und zwar durch die US-amerikanischen Zeitschrift N+1, in der sich vor einiger Zeit eine Strecke der Autorin über die Probleme nationaler Minderheiten in Tiflis fand. Dieser Beitrag ist mittlerweile auch kostenfrei auf der Website des Magazins abrufbar. Er bietet nicht nur einen guten Einblick in die sozialen Ungleichheiten in der georgischen Hauptstadt – er verdeutlicht ebenso, auf welche Art und Weise Lomasko ihre Themen aufbereitet.
Obwohl der Comic-Begriff eine große Bandbreite an Inhalten und Formen umfasst, möchte sie ihre Arbeiten nicht als Comic verstanden wissen. Denn abgesehen davon, dass ihre graphischen Reportagen sehr textlastig sind und nur selten Bild-Sequenzen aufweisen, verortet sie sich in einer völlig anderen Tradition. Als Vorbilder dienen ihr vorrangig Zeichenmappen, wie sie von Soldaten im Krieg oder aber von Häftlingen in Straf- und Arbeitslagern (Gulag) angefertigt wurden. Auch der sozialistische Realismus prägt ihre Zeichnungen, die oftmals direkt vor Ort entstehen und später keine Bearbeitung mehr erfahren. Auf diese Weise sollen die Unmittelbarkeit und die Energie des Moments einfangen werden, was auch gelingt.
Lomaskos Band ist zweigeteilt: In den Unsichtbaren beschäftigt sie sich mit den sogenannten Rändern der Gesellschaft – mit Personen und Gruppierungen, die in Putins Russland wenig Rechte und noch weniger Öffentlichkeit besitzen. Einzelne Porträts berichten von Insassen in Jugendstraflagern, von verwaisten Dorfschulen und von Sexarbeiterinnen. An die Substanz gehen ihre Interviews mit ehemaligen Arbeitssklavinnen, die unfassbare Grausamkeiten erdulden mussten und deren Peiniger bis heute von Politik und Polizei geschützt werden.
Die Zornigen – der zweite Teil des Bandes – bietet eine Chronik der russischen Bürgerrechtsproteste und Strafprozesse jüngerer Vergangenheit, über die in den staatlich gelenkten Medien des Landes nur unzureichend berichtet wurde. Mittlerweile wird man sich über die hier beschriebenen Ereignisse und Entwicklungen an anderer Stelle sicher fundierter und ausführlicher informieren können. Doch durch den spezifischen Zugang Lomaskos erhalten die Menschen auf den Straßen und Plätzen Moskaus eine Stimme und ein Gesicht. Vor allem aber bestechen Die Unsichtbaren und die Zornigen durch ihre Dringlichkeit und Lebendigkeit: Die Texte und Bilder des Bandes fangen die Brisanz und Dynamik des Geschehens in einer Weise ein, wie es historische Abhandlungen wohl nie könnten.