Ein Buchtitel wie Am Strand von Bochum ist allerhand los wirft naturgemäß einige Fragen auf. Insbesondere dann, wenn es sich beim Verfasser der so benannten Postkarten-Sammlung um einen ehemaligen DDR-Schriftsteller handelt, der dem ostdeutschen Realsozialismus im Dezember 1977 den Rücken kehrte und daraufhin per Dauervisum in der Bundesrepublik lebte. Waren die Gebirgsbäche Ost-Berlins denn keine Karte wert? Und was ist mit den Gletscherformationen und Vulkanen der Sächsischen Schweiz? Da ging doch sicher die Post ab!?
Tatsächlich entwickelte der Schriftsteller Jurek Becker (1937-1997) seine Leidenschaft für das Medium Postkarte erst 1978 während eines längeren Aufenthalts in den USA. Dieses Interesse sollte sich Mitte der 80er Jahre nochmals verstärken und ihn bis zu seinem Lebensende begleiten. Von den über 950 erhaltenen Karten versammelt der nun vorliegende Band etwa 400 Stück – zumeist adressiert an das befreundete Ehepaar Ottilie und Manfred Krug, seinen jüngsten Sohn Jonathan und seine zweite Ehefrau Christine Becker, die auch als Herausgeberin der Edition fungiert.
Nicht selten lesen sich nachgelassene Briefe und Aufzeichnungen wie eine Art Auto-/Biographie der/des Verstorbenen; mitunter auch als Zeitdokument vergangener gesellschafts-/politischer Ereignisse. Dies jedoch ist bei den Postkarten Jurek Beckers nicht der Fall, auch wenn sie eine nahezu lückenlose Rekonstruktion seiner Urlaube, Lesereisen und Arbeitsaufenthalte im In- und Ausland erlauben. Doch im Vordergrund stehen hier vielmehr der flüchtige Gruß, die schelmische Anekdote, die ironische Bezugnahme auf das jeweilige Postkartenmotiv, oder schlicht: der Liebesbeweis an Frau und Sohn. Völlig frei von Kitsch und Klischees. Mir selbst jedoch fallen nur abgeschmackte und schrecklich ausgetretene Begriffe ein, um die unbedingte Schönheit von Am Strand von Bochum ist allerhand los (Suhrkamp Verlag, 2018) in Worte zu fassen. Warum also nicht das Buch selbst sprechen lassen?
Zugegeben, ein Meer aus Poststempeln ist gar kein richtiges Gewässer. Und die darin schwimmenden Fische wirken auch nicht gerade lebensfroh. Zeit also für ein paar aufheiternde Worte. Hier eine Auswahl der schönsten Anreden Jurek Beckers für seine Ehefrau Christiane, entnommen dem vorliegenden Band:
Du alte Butterbrezel, sehr geehrter Bratklops, du liebes Eisbein, du liebe Knalltüte, mein liebes Murmeltier, mein Fischbrötchen, du alte Berghütte, du altes Taubenei, du alte Mottenkugel, du alte Schneeflocke, du alte Pfandflasche, du alter Ziegenkäse, du alter Klettverschluss, du alte Bügelfalte, du Beste, du alte Hausratsversicherung, du alter Kaiserschmarren, du altes Nachtschattengesöff, du altes Zimmerthermometer, du alte Biokarotte, du alte Salatschleuder, du alte Hörbrille, du alte Fusselbürste, du alter Kostenvoranschlag, du alte Hemmschwelle, du alte Sondergröße, du alte Maultasche, du alter Doppelwhopper, du altes Haltesignal, du altes Schweigegelübde, du alter Finderlohn, du alter Mietspiegel, du alte Dampferanlegestelle, du altes Kirchenschiff, du alter Publikumserfolg, du alte Flachzange, du dickes Ei, du alte Strahlenschutzverordnung, du alter Lastenausgleich, du alter Hammelsprung, du alter Verteilerschlüssel, du alte Fahrrinne, du alte Einreisebeschränkung, du alte Vorwarnstufe, du alte Funkstille, du alte Konjunkturschwankung, du alte Verlegenheitslösung, du alter Vorderschinken, du altes Sicherheitsrisiko, du alter Wackelkontakt, verehrte Gewürzgurke, du blaues Wunder, du wunder Punkt, du heller Wahnsinn, du teures Vergnügen, du krumme Tour, du hohe Schule, du lange Leitung, du toller Einfall, du heißer Tip, du unverhoffte Wendung, du schneller Brüter, du kühne Tat, du Stunde der Bewährung, du milde Gabe, du beglaubigte Abschrift, du letzter Heuler, du glückliche Fügung, du fette Beute, du verschwiegenes Plätzchen, du griffige Formel, du unauflösbarer Widerspruch, du verwinkeltes Viertel, du gewisses Etwas!