Womöglich handelt es sich beim Flaneur Magazin um eines der interessantesten Zeitschriften-Projekte der letzten Jahre. Interdisziplinär angelegt, widmet sich jede Ausgabe einer anderen Straße der Welt. Im Jahr 2016 war eine dieser Straßen der Boulevardring – eine ringstraßenähnliche Folge von zehn Boulevards im historischen Zentrum von Moskau. Fabian Saul, Chefredakteur des Magazins, hielt sich während der Arbeit am Heft für einige Zeit in der russischen Hauptstadt auf. Aus seinen Recherchen, Aufzeichnungen und Begegnungen entstand der Essay Boulevard Ring (Matthes und Seitz, 2018), der sich insbesondere durch seine ungewöhnliche Form auszeichnet. Denn der schmale Band besteht aus 210 Kleinst-Kapiteln, die lose miteinander verbunden sind. Assoziativ reihen sich dabei Beobachtungen, flüchtige Momentaufnahmen, historische Details und viele (sehr viele) Zitate aneinander. Gern und häufig verwendet: Walter Benjamins Moskauer Tagebuch. Ergänzt wird das Textgewebe Sauls durch künstlerische Arbeiten von Protey Temen und Pavel Pepperstein.
Fabian Saul besitzt ein intuitives Gespür dafür, völlig disparates Material zusammenzufügen und neu zu strukturieren. Auf diese Weise werden ungeahnte, oft erhellende Perspektiven eröffnet. Nur ein Beispiel seines Vorgehens: In einer Episode verkündet eine kleine Glocke in einem Café die Uhrzeit – das folgende Kapitel berichtet von der Herstellung der einst größten Glocke der Welt in Moskau im Jahr 1733 – der daran anschließende Unterpunkt erzählt von den Glockenschlägen des Silvesterabends 1991, die das Ende der Sowjetunion proklamierten.
Trotz der gelungenen Gesamtkomposition weist Sauls Essay über „diese irreführende Dreiviertelstraße“ eine zentrale Schwachstelle auf. Diese betrifft Sprache und Stil des Buches. Denn darin wimmelt es nur so von blasierten Manierismen und prätentiösen Gesten, die sich selbst noch in den Fußnoten finden: So wird der Song Shine On You Crazy Diamond von Pink Floyd aus dem Jahr 1975 nicht etwa konventionell zitiert. Nein nein, als Quelle dient die DDR-LP des dazugehörigen Albums Wish You Were Here aus dem Jahr 1983. Aber vielleicht hat Saul für so viel Übermut auch einen Szenenapplaus verdient? In jedem Fall wohl dafür, dass ihm bei aller Kritik ein schönes Buch gelungen ist.