In der Theorie sind offene Bücherschränke eine ziemlich gute Sache. Nachhaltig zudem. Wer wird da widersprechen wollen? Nun, vielleicht ja jemand, der einen solchen Schrank ab und an frequentiert. Denn zumeist finden sich darin nur Bücher, die getrost als Altpapier durchgehen: vergilbte Groschenheftchen, Arztromane, abgelaufene Modekataloge oder Ratgeber zu den digitalen Fragestellungen des Jahres 1998. Mumpitz also.
Doch mitunter hat man Glück. Unweit des Hauptgebäudes der Universität Wien hat der Verfasser dieser Zeilen die Minutennovellen (Suhrkamp Verlag, 2002) des ungarischen Schriftstellers und Dramatikers István Örkény (1912-1979) aus einem solchen Almosen-Kasten geklaubt. „One man’s trash is another man’s treasure!“ – hier stimmt’s. Denn die von Terézia Mora übersetzten und ausgewählten Prosa-Stücke sind funkelnde Kleinode. Sonderbare Klunker und geschmeidiges Geschmeide, zusammengeschnürt wie gemacht für einen Henkersknoten.
”„Der Morgen war neblig, der Verkehr stockend. Die Straßenbahn fuhr Kordova Kordován vor der Nase weg. Der achtundvierzigjährige Gemüseeinkäufer des Restaurants Royal stand schlechtgelaunt an der Haltestelle. Auf einmal wurde er des Herumstehens leid, umfaßte mit der rechten Hand seinen linken Daumen und riß ihn mit einem kräftigen Ruck ab.“
István ÖrkényNovember
István Örkény hat in seinem Leben etwa 400 Minutennovellen verfasst, die ihm oft nur als Fingerübung dienten, letztlich aber als sein Hauptwerk angesehen werden müssen. Der vorliegende Band versammelt etwa 65 davon, versehen mit einem Nachwort des ungarischen Intellektuellen György Konrád. Eine Inhaltsangabe ist somit unmöglich. Was viele der ein- bis fünfseitigen Texte jedoch verbindet, ist ihr Hang zum Absurden und Grotesken, ihr furioser Galgenhumor und das Wissen darum, dass Leben und Tod oft nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt sind. Dann und wann scheint Örkény in seinen Erzählungen (die selten Novellen im eigentlichen Sinn darstellen) das Ziel zu verfolgen, sein Personal mit möglichst wenig Sätzen völlig unerwartet und beiläufig krepieren zu lassen. Verdient oder unverdient.
Sein Zugang zur Welt und zur Literatur war ganz klar von seiner eigenen Vita geprägt. Denn nur durch Zufall ist er in fünf Jahren Zwangsarbeit und sowjetischer Kriegsgefangenschaft dem Tod von der Schippe gesprungen. Seinem Überleben verdanken wir diese ganz herausragenden Prosa-Miniaturen, die uns die Fragilität (und oft auch die Banalität) unserer menschlichen Existenz in Erinnerung rufen.
Wirklich ein wunderbares Buch. Hatte 2002 die Gelegenheit bei der Buchpräsentation der deutschen Übersetzung Terezia Mora im Literaturhaus in Berlin, Fasanastraße daraus vorlesen zu hören.
Da bin ich doch direkt neidisch. Immerhin habe ich Mora vor einer Weile in der Alten Schmiede lesen hören. Ein wenig über ihre Übersetzungsarbeit hat sie dabei auch gesprochen. Aber ich meine, dass ich Sie/dich ohnehin im Publikum gesehen habe. 🙂