Die Welt aus den Fugen. Doch der polnische Schriftsteller und Journalist Ryszard Kapuściński (1932-2007) kann ohne Einschränkung empfohlen werden. Seine durchweg hervorragenden Reportagen stellen nachdrücklich unter Beweis, dass an dem Slogan „Wer liest, lebt doppelt!“ vielleicht doch etwas dran sein könnte. In unterschiedlichen Funktionen, vor allem aber als Auslandskorrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP, bereiste Kapuściński ab den späten 1950er Jahren die Welt. Besonders viel Zeit verbrachte er dabei in Asien, Afrika und Mittelamerika. Auf diese Weise entstanden Texte über den äthiopischen Herrscher Haile Selassie (König der Könige), die Islamische Revolution im Iran (Schah-in-Schah), den 100-Stunden-Krieg zwischen Honduras und El Salvador (Der Fußballkrieg) oder die afrikanische Geschichte nach dem Kolonialismus (Afrikanisches Fieber).
Erst nach dem Tod Ryszard Kapuścińskis wurde bekannt, dass er vorübergehend als Informant der polnischen Geheimpolizei tätig war, obwohl er stets beteuert hatte, in Opposition zur Volksrepublik Polen gestanden zu haben. Die Beweislage ist nicht eindeutig, doch das Image des großen europäischen Reportage-Autors und Intellektuellen war nun angeknackst. Wiederholt in Frage gestellt wurde zudem, ob sich seine Bücher als historische Quelle eignen. Denn einerseits würde die hohe Literarizität seiner Texte der Faktentreue entgegenwirken, andererseits habe Kapuściński – nicht nur hinsichtlich seiner eigenen Biographie – in einigen Punkten schlichtweg gelogen und zahlreiche Ereignisse oder Begegnungen übermäßig ausgeschmückt. Wer schreibt, lebt doppelt?
”„Die Idee dieser großen Reise wurde beim Lesen der Meldungen über die Perestroika geboren: Sie kamen fast alle aus Moskau. Selbst wenn es Ereignisse in entfernten Orten wie Chabarowsk betraf, wurde darüber aus Moskau berichtet. Mein Reportergewissen lehnte sich dagegen auf. In solchen Momenten zog es mich nach Chabarowsk, ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort passiert.“
Ryszard KapuścińskiImperium
Einen guten Einstieg in das umfangreiche Schaffen Kapuścińskis bietet das Buch Imperium. Sowjetische Streifzüge (Die Andere Bibliothek, 1993), übersetzt von Martin Pollack. Der Hauptteil des Bandes – betitelt Aus der Vogelschau – schildert den Zerfall der UdSSR in den Jahren 1989 bis 1991. Mit poetischer Beobachtungsgabe berichtet der Autor darin von den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in so unterschiedlichen Regionen wie dem Kaukasus, Zentralasien, Sibirien, der Ukraine oder der russischen Hauptstadt Moskau. Ähnlich wie bei seiner weißrussischen „Kollegin“ Swetlana Alexijewitsch geht es ihm dabei immer auch um die „einfache“ Bevölkerung, der hier ganz bewusst eine Stimme gegeben wird. Flankiert werden die Eindrücke der sowjetischen Umbruchphase von Impressionen aus den Jahren 1939 bis 1967 (Erste Begegnungen) sowie abschließenden Reflexionen aus dem Jahr 1992 (Postskriptum). Das Buch selbst wird man nach der Lektüre ebenso flankieren: mit weiteren Reportagen des polnischen Weltbürgers.