Angeblich wurden Namen wie Maik, Ronny, Enrico oder Sandro auch deshalb so gern in der DDR vergeben, weil die fernen Orte, die ihr Klang heraufbeschwor, für die meisten Ostdeutschen schlechterdings nicht erreichbar waren. So konnte man sich ein Stück „Exotik“ ins eigene Land holen. Wichtig war dabei gar nicht, um welchen Ort es sich im Konkreten handelte – entscheidend war vielmehr dessen Eignung zur Projektionsfläche. Als eine solche fungiert in der Novelle Ich fahre nach Madrid (Verbrecher Verlag, 2018) der Georgierin Naira Gelaschwili die spanische Hauptstadt, die der Protagonist Sandro Litscheli entgegen seiner titelgebenden Ankündigung nie erreichen wird. Politische, persönliche und ökonomische Gründe lassen die Reise nicht zu.
„Als Sandro der Logik des Lebens endlich in die Augen sah, stellte er nüchtern und leicht fest: Selbst wenn er einen Berechtigungsschein für seine Reise von den Gewerkschaften erhalten hätte, hätte er kein Geld dafür gehabt, und hätte er Geld gehabt, so hätte es keine Reiseerlaubnis gegeben, hätte es beides gegeben, hätte er keinen Urlaub bekommen.“
Dass der Text die eingeschränkten (Reise-)Freiheiten Sowjet-Georgiens genau benennt, war einer der Gründe dafür, warum die bereits 1982 geschriebene Novelle einige Zeit zurückgehalten wurde, bis sie letztlich in einer Zeitschrift erscheinen konnte. Nach einer kurzen politischen Kontroverse um den Text, entwickelte sich dieser rasch zu einem großen Erfolg bei Kritik und Publikum, wie das Nachwort von Jörg Sundermeier darlegt. Betont wird darin ebenso, dass die Novelle nicht nur im Kontext des Realsozialismus funktioniere, sondern eine universelle Erfahrung darstelle: das Bedürfnis nach einem Sehnsuchtsort, weit entfernt von Alltag und Routine.
Litscheli fährt also nicht nach Madrid. Obwohl er sämtlichen Bekannten und Arbeitskollegen diese (oder eine andere) Lüge auftischt. Stattdessen sucht er einen alten Jugendfreund auf, der in einer Klinik unweit von Tiflis praktiziert. Hier findet er als „schwerkranker Patient“ für zwei Wochen Unterschlupf, um sich in der Einsamkeit eines kargen Zimmers Erholung von seinem Leben zu verschaffen und mit der Kraft der Phantasie – die zum Hoffnungsträger der Erzählung wird – in weit entlegene Regionen zu reisen.