Graphic Novel sagt man nicht!
Nina Bunjevac: Vaterland

Von 04.09. 2018 März 4th, 2020 Bücher
Tino Schlench - Literaturpalast - Bunjevac - Vaterland Original

„Graphic Novel“ sagt man nicht! In der Comic Community erntet man dafür nur abfällige Blicke oder ein müdes Lächeln. Und auch die Wissenschaft zeigt sich skeptisch. Denn eine wirklich befriedigende Definition lässt sich für den Begriff nicht finden. Tatsächlich erweist sich die Bezeichnung sehr häufig als eine Mogelpackung, als reines Marketinginstrument, gedacht zur Aufwertung eines Genres, dem Format und Komplexität für gewöhnlich abgesprochen werden. Den Ritterschlag „Graphic Novel“ erhalten jedoch nicht alle Comics. Denn das Label hierarchisiert die sequenziellen Künste und trennt die Spreu vom Weizen: Hier der seriös-komplexe Bildroman, Prädikat „besonders wertvoll“, geeignet auch für anspruchsvolle Leserinnen und Leser – dort die abgeschmackten Heftchen mit Donald Duck und Superman. Seichte Massenware fürs Kinderzimmer und all diejenigen, die nicht erwachsen werden wollen.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn hat die Gattungsangabe je über die Qualität eines Werkes entschieden? Wohl kaum. Und dennoch lassen sich Publikum und Literaturkritik mitunter von der Bezeichnung blenden. Auch deshalb, weil Comics an den Schulen und Hochschulen kaum eine Rolle spielen und das Wissen um die Gattung und ihre Geschichte rar gesät ist. Da Maßstäbe zur Beurteilung von Comics häufig fehlen, wird viel zu oft dem Paratext vertraut: Wenn „Graphic Novel“ draufsteht, so wird schon was Ordentliches drin sein. Widmet sich eine Veröffentlichung dann auch noch einem historischen oder gesellschaftsrelevanten Thema – im Grunde ein Garant dafür, dass sie das Label „Graphic Novel“ führen wird –, so werden sich umso mehr begeisterte FürsprecherInnen finden. Es gilt: Inhalt vor Form. Dass moralische, außerliterarische Kriterien in der allgemeinen Comic-Rezeption oftmals mehr zählen als ästhetische Qualitäten, beweist nachdrücklich, welches Dasein Comics noch immer fristen. Als eigenständige Kunstform werden sie nicht ernst genommen.

Doch nun genug der Klugscheißerei! Nennen wir Nina Bunjevacs grandiosen Band Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada (Avant Verlag, 2015) doch einfach einen Comic. Ein hervorragendes Beispiel dafür, wozu das Genre in der Lage ist. In ihrer autobiographischen Arbeit erzählt die Bunjevac in schwarz-weiß gehaltenen, fein gekörnten Zeichnungen von ihrem Vater Peter, der in den 1960er Jahren seine Heimat Jugoslawien verließ, nach Kanada ging und sich hier der nationalistischen Terrororganisation „Freiheit für das serbische Vaterland“ anschloss. 1977 starb er bei einem Unfall, ausgelöst von einer selbstgebauten Bombe. Von ihrer Mutter werden die politischen und persönlichen Verfehlungen des Vaters jedoch lange Zeit verdrängt. Die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren, wird so zur Aufgabe der Tochter. Deren poetische Erinnerungsarbeit orientiert sich an alten Photographien, historischen Recherchen, Gesprächen, Träumen und südosteuropäischen Mythen. All dies in einer filigranen Bildsprache, die Kunstwerke des sozialistischen Realismus zitiert und sich somit auch auf visueller Ebene der eigenen Vergangenheit und Herkunft annähert.

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