Eins ist sicher: Hier ist kein Wort zu viel. Klar, nun könnte die eine oder der andere natürlich einwenden: Kaum möglich bei einer Erzählung, die gerade einmal 70 Seiten umfasst. Doch die konsequente Reduktion hat Prinzip bei Ágota Kristóf (1935–2011), die sich in ihrem schmalen Band Die Analphabetin (Ammann Verlag, 2005) erneut mit ihrer eigenen Biographie auseinandersetzt. Die in einem kleinen ungarischen Ort aufgewachsene Kristóf verließ während der Revolution von 1956 nicht nur ihr Heimatland, sondern musste sich bedingt durch ihre Flucht auch von ihrer Muttersprache trennen. Sie, die mit vier Jahren lesen konnte, wurde in der französischen Schweiz wieder zur Analphabetin.
”„Ich kann die Wörter. Wenn ich sie lese, erkenne ich sie nicht. Die Buchstaben sagen mir nichts. Das Ungarische ist eine phonetische Sprache, das Französische ganz das Gegenteil.“
Ágota KristófDie Analphabetin
Ihre Bücher und Hörspiele, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde, verfasste sie seit den 1970er Jahren auf Französisch. Vom mühsamen Erlernen dieser Sprache als Geflüchtete im schweizerischen Neuchâtel erzählt der vorliegende Text. Und dies völlig schnörkellos, klar und ungekünstelt. Trotz – oder besser: aufgrund – dieser Zurückgenommenheit entwickelt die Erzählung eine unheimliche Sogkraft und poetische Qualität.