Das war nun wirklich nicht zu erwarten. Mir war zwar bewusst, dass Christoph Hein im Jahr 1982 mit seiner Novelle Der fremde Freund – in der BRD aus Gründen des Titelschutzes unter dem Namen Drachenblut erschienen – der literarische Durchbruch gelang. Doch wer sollte ahnen, dass ihm diesen Erfolg ein derart böser und radikaler Text bescherte? Bis zur Hälfte in einem Rutsch gelesen, ab und an stand mir der Mund dabei offen. Die vielleicht besten Seiten Literatur, die ich in diesem Jahr gelesen habe (Anm.: Wir befinden uns im Jahr 2018, die Hitze hat Wien völlig im Griff.). Die formale und/oder inhaltliche Kompromisslosigkeit literarischer Texte ist für spätere Generationen häufig nicht mehr nachzuvollziehen. Der fremde Freund aber ist gut gealtert und wirkt noch heute agil.
Nur in der zweiten Hälfte schwächelt er ein wenig. Denn Christoph Hein macht hier den entscheidenen Fehler, die Resignation, Entfremdung und Gefühlskälte seiner Ich-Erzählerin Claudia (geschiedene Ärztin in Ost-Berlin, Ende 30, kinderlos, Landschaftsphotographin, unbefriedigende Sozialkontakte) zu sehr auszuerzählen. Jedes Manko, jedes Defizit wird explizit auf ihre Biographie – eng verwoben mit der ostdeutschen Geschichte – zurückgeführt. Der Text büßt dadurch seine so reizvolle Ambiguität ein. Muss doch nicht sein. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Novelle aber vielleicht doch? Gemessen an der Eindeutigkeit des Textes ist es ohnehin erstaunlich, dass das Buch in der DDR erscheinen konnte. Denn zahlreiche politische Reizthemen, wie Republikflucht, gesellschaftlicher Stillstand und faschistische Kontinuitäten werden darin kritisch und völlig offen angeschnitten.